Thema – Plastik

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In die Tonne

Garbologinnen und Garbologen graben im Müll, um zu erfahren, wie Menschen einst gelebt haben. Der archäologische Blick auf den Abfall liefert auch Erkenntnisse über die Gegenwart

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Wer Archäologin oder Archäologe wer­den will, braucht eine unempfindliche Nase. Denn statt nur mit dem Pinsel vorsichtig Sand von alten Tongefäßen zu entfernen, graben sie gern auch mal dort, wo es ziemlich riechen kann. In antiken Latrinen zum Beispiel oder in Misthaufen, die der norddeutsche Schlick konserviert hat. „Sobald da Luft ran­kommt, fängt es an zu stinken“, sagt der Ur-­ und Frühgeschichtler Jens Schnee­weiß vom Zentrum für Baltische und Skandinavische Archäologie in Schleswig. Abschrecken lässt er sich davon freilich nicht. Denn neben antiken Tempelanla­gen oder Grabstätten sind uralte Müll­haufen erstklassige Quellen, um über die Vergangenheit zu lernen. „Müll“, so drückt es Jens Schneeweiß aus, „ist das tägliche Brot des Archäologen.“ Müll verrät, wie Menschen gelebt haben, wann ihre Städte aufblühten und wann sie sich im Niedergang befanden.

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In die Tonne (Illustration: Frank Höhne)
(Illustration: Frank Höhne)

Für sogenannte Garbologinnen und Garbologen herrscht an Fundstellen zum Glück kein Mangel. „Die Annahme, dass früher alles weiterverwertet worden sei, ist Blödsinn“, widerspricht der Salz­burger Altertumswissenschaftler Gün­ther Thüry einem populären Mythos. Aber früher fehlte es oft an einer orga­nisierten Abfallentsorgung. Und so schmissen die Menschen ihren Müll auf wilde Deponien: in Gruben, auf Haufen und oft auch in verlassene Gebäude, die sich mit Unrat füllten.

Hafenschlamm ist Gold wert

Oder sie warfen ihre Abfälle ein­fach ins Wasser. Zum Beispiel im Hafen von Haithabu in Schleswig-­Holstein. Im Mittelalter war der Ort ein wichtiges Handelszentrum zwischen Nord-­ und Ostsee. Viele Kaufleute handelten direkt auf den Stegen, an denen die Schiffe anlegten. Bis heute liegt im Schlamm darunter alles, was die Menschen da­mals entweder verloren oder bewusst über Bord geworfen haben. „Wir finden hier Tierknochen, Münzen und Schwerter, die vielleicht nach Kämpfen ins Wasser fielen“, sagt Jens Schneeweiß. „Der Hafen ist eine wahre Fundgrube, sogar ein halbes Schiff liegt dort auf dem Boden.“ Aus diesen Entdeckungen lässt sich unter anderem auf die Han­delsbeziehungen Haithabus schließen.

Einblicke in den Alltag vergangener Zeiten geben oft auch die lehmigen Bö­den der Straßen und Häuser, in denen sich weggeworfener Müll festgetreten hat. Im Lehmboden einer römischen Küche kommen Pflanzenreste, Fisch­schuppen und Knochensplitter zum Vorschein. Manchmal wurden die Kü­chen auch mit Asche ausgestreut, die den entstehenden Gestank überdecken sollte. „Wir lernen sehr viel aus solchem Abfall“, sagt Günther Thüry. „Zum Beispiel: Was wurde da gegessen, und wo kamen die Zutaten überhaupt her?“

Angesichts der Entdeckungen, die Archäologinnen und Archäologen im Müll vergangener Zeiten machten, wuchs bei manchen von ihnen das In­teresse, auch die Gegenwart mit diesen aufschlussreichen Methoden zu unter­ suchen – zum Beispiel bei der deutschen Archäologin Eva Becker.

 „Hinter­lassenschaften zeigen, was die Menschen wirklich tun, nicht verzerrt durch Falsch­aussagen oder Selbsttäuschungen“

Dazu inspiriert hat sie die Geschich­te von William Rathje, der als Pionier der Müllarchäologie gilt. Zusammen mit seinem Team untersuchte er in den 1970er-­Jahren die Deponie Fresh Kills in New York, damals die größte Müll­kippe der Erde. Ausgangspunkt seiner Untersuchungen waren Umfragen unter den Einwohnerinnen und Einwohnern New Yorks nach deren Konsumgewohn­heiten. Sie behaupteten, sich relativ be­wusst und gesund zu ernähren, also viel Obst und Gemüse und wenig Fett und Alkohol zu sich zu nehmen. Die Ana­lyse des Mülls hingegen zeichnete ein völlig anderes Bild. Viele Fast-­Food­-Verpackungen kamen zum Vorschein und „neben leeren Chipstüten einige wenige angebissene Äpfel“, wie Eva Becker sagt. Was sie daran fasziniert? „Solche Hinter­lassenschaften zeigen, was die Menschen wirklich tun, nicht verzerrt durch Falsch­aussagen oder Selbsttäuschungen.“

Seit Eva Becker vor mehr als zehn Jahren von den Forschungen Rathjes hörte, zieht sie mit ihrer Kamera durch Städte, Dörfer und übers Land. Dabei fotografiert sie den Müll, den sie auf die­sen Erkundungstouren findet. Eine ihrer Erkenntnisse: Zwar sind viele Menschen offenbar zu faul, einen leeren Pappbecher oder die Zigarettenkippe zum nächsten Mülleimer zu tragen. Aber ganz offen auf die Straße wollen sie ihren Abfall auch nicht werfen. Also verstecken sie ihn lie­ber in Hecken und Büschen. Erst im Herbst, wenn die Blätter fallen, werden die Müllmengen deutlich, die sich im Sommer dort angesammelt haben.

Der Monte Testaccio bei Rom besteht vollständig aus Scherben

Aber auch Menschen in vergangenen Zeiten gingen oft wenig verantwortungs­voll mit ihrer Umwelt um, wie Archäo­loginnen und Archäologen herausgefun­den haben. Schon in der Bronzezeit um das Jahr 1800 v. Chr. wurde beispiels­weise bei Bruszczewo im heutigen Polen ein See als Müllkippe und Abwasserbecken benutzt, berichtet Jens Schneeweiß. Schließlich kippte er um und war von da an als Frischwasserquelle und zum Fisch­fang nicht mehr zu gebrauchen. Krank­heiten brachen aus, die die Menschen mit Heilkräutern behandelten – der Zusam­menhang mit der Wasserverschmutzung war ihnen offenbar nicht bewusst. Im antiken Rom wiederum entsorgten Kauf­leute Amphoren aus Ton, in denen sie Wein, Öl oder Fischsoße importiert hatten, manchmal schon nach einmaligem Gebrauch. So schufen sie einen heute noch beeindruckenden Müllberg, den soge­nannten Monte Testaccio bei Rom, der vollständig aus Scherben besteht.

Doch auch wenn die Wegwerfgesell­schaft unserer Zeit damals schon vorge­zeichnet schien: Die Müllmenge, die jede und jeder von uns heute produziert, ist längst viel größer, als es sich die Menschen der Vergangenheit vorstellen konnten. Zu­dem bestimmen nicht mehr Tonscherben und Knochen unseren Abfall, sondern Kunststoffe wie Styropor, Blechdosen und Pizzakartons. Für Eva Becker wäre es folgerichtig, würden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Zukunft unserer Epoche deshalb einen griffigen und ein­prägsamen Namen geben: Auf die Stein­, Bronze­ und Eisenzeit müsste dann die heutige „Papier-­Plastik-­Zeit“ folgen.

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