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Wenn alle schlafen

Wie ist es, nachts zu arbeiten und was macht das mit Gesundheit und Sozialleben? Eine Pflegerin, ein Busfahrer und eine Kneipenwirtin erzählen

Kneipe

Freitagabend, 22 Uhr. Schichtbeginn in der Kneipe „Beim Dicken“ im Berliner Wedding. Zeit für Kaffee bleibt nicht, der Laden ist voll. Anja* steht hinter dem Tresen und nimmt Bestellungen an: Bier, Apfelschorle, Korn. Während ihre Kundschaft den Tag langsam ausklingen lässt, beginnt er für Anja erst. Das Fass muss getauscht, die Gläser gespült werden. Ungeduldige Gäst:innen drängeln, einer wirft seinen Bierkrug um. „’tschuldigung, Anja“, nuschelt er. Sie schüttelt den Kopf und grinst. Man kennt sich.

Anja ist 47 Jahre alt, seit ihrem 16. Lebensjahr arbeitet sie in der Gastronomie. Sie kennt die schwierigen Arbeitszeiten: „Feiertage, Wochenende – is nich. Dit is Gastro“, sagt sie. Nachtarbeit gehört selbstverständlich auch dazu.

Die Mehrheit der Deutschen arbeitet tagsüber, zwischen 7 Uhr morgens und 19 Uhr abends. Nur rund ein Fünftel arbeitet außerhalb dieser Zeiten, zumeist in Wechselschichten oder sogar ausschließlich nachts. Das geht aus dem „Arbeitszeitreport Deutschland“ der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) hervor. Von Nachtarbeit spricht man zwischen 23 und 6 Uhr. Zu den klassischen Nachtberufen gehören Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienst. Krankenhäuser sind immer geöffnet, auch in der Industrie geht nach Sonnenuntergang oft der Betrieb weiter. Busfahrer:innen sind in der Nacht ebenso auf den Beinen wie Mitarbeiter:innen von Logistikunternehmen.

Im Krankenhaus gehört Nachtarbeit dazu

Auch Paula Eberhard und Marc* arbeiten nachts. Paula ist 28 Jahre alt und Pflegerin auf der Onkologiestation der Charité in Berlin-Steglitz-Zehlendorf. Sie hat wie die meisten Pflegerinnen in Krankenhäusern Wechselschichten: Früh-, Spät- und Nachtdienste. Marc ist 33 Jahre alt und Busfahrer. Er arbeitet im Schichtdienst, meistens aber nachts.

23.30 Uhr: Auf der Station beginnt Paula ihre Runde. Die Krebspatient:innen bekommen Antibiotika, Schmerzmittel oder etwas gegen Übelkeit. Vielen ist schlecht von der Chemotherapie, andere fiebern. In der Regel seien sie nachts zu zweit und verantwortlich für 42 Patient:innen. „Es gibt Nächte, in denen ich durchrenne, weil es klingelt und klingelt“, sagt sie.

Nach der Versorgung der Patient:innen muss Paula auch noch Medikamente für die Frühschicht aufziehen, Blutproben beschriften und Kurvenblätter ausfüllen. Unter den Diagrammen zu Puls, Temperatur und Blutdruck notiert sie Medikation und Schmerzen. Dann hat sie Zeit für eine Pause. Eine halbe Stunde am Stück ist es selbst an ruhigen Tagen selten. Irgendjemand klingelt immer. Die Arbeitsbelastung sei hoch, mehr als drei Nachtschichten in Folge schaffe sie nicht. „Danach brauche ich ewig, um mich zu erholen“, sagt Paula.

Hell erleuchtetes Pförtnerhaus am Grossmarkt Dortmund (Foto: Achim Multhaupt/laif)
Auch in der Nacht besetzt: Das Pförtnerhaus am Großmarkt in Dortmund (Foto: Achim Multhaupt/laif)

 

Wer nachts und in Wechselschicht arbeitet, lebt ständig gegen den zirkadianen Rhythmus, die sogenannte „innere Uhr“. Das Bundesverfassungsgericht stellte 1992 fest, dass Schichtarbeit mit regelmäßigem Nachteinsatz grundsätzlich für jeden Menschen schädlich sei. Wissenschaftliche Studien bestätigen das. Schlafstörungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Magenkrankheiten, Diabetes sowie psychische Erkrankungen könnten Folgen von Nachtarbeit sein, sagt der Arbeitszeitexperte Nils Backhaus von der BAuA.

0.12 Uhr: Marc lenkt den Bus mit der Nummer 296 auf den Betriebshof Lichtenberg. Das Fenster steht offen, so hält er sich wach. An der Pforte brennt noch Licht, dahinter stehen die gelben Busse verlassen im Dunkeln. Er stoppt den Motor, greift nach einem Ledermäppchen und wirft einen Blick auf den Zettel, der darin liegt. Darauf steht, dass er in 18 Minuten den Nachtbus N50 fahren soll. Die Zettel, die Linie, Haltestellen und Pausenzeiten angeben, zieht Marc zu Schichtbeginn am Terminal. Ein Automat spuckt den Zettel mit allen Haltestellen und Wartezeiten aus. Je nach Schicht fährt Marc eine andere Linie. Welche Schichten er hat, erfährt er erst eine Woche vorher.

Das macht Marcs Alltag schwer planbar. Dabei ist Planbarkeit gerade für Nacht- und Schichtarbeiter:innen besonders wichtig. Sie leben gegen den in unserer Gesellschaft vorherrschenden sozialen Rhythmus: Tagsüber wird gearbeitet, Zeit für Freizeit ist am Abend und am Wochenende. Wer als Nachtarbeiter:in an Familienfeiern teilnehmen, Freund:innen treffen oder zu Ärzt:innen oder Amt will, muss das im Vorfeld organisieren, sich freinehmen oder Ersatz suchen. Besonders schwierig wird es, wenn noch Partner:innen und Kind mitgedacht werden müssen.

Nachtarbeit hat Auswirkungen auf Gesundheit und Sozialleben

Seine Freundin sei oft traurig, wenn er an Geburtstagen oder Weihnachten arbeiten müsse, sagt Marc. Damit überhaupt Zeit für gemeinsame Aktivitäten bleibt, arbeitet er Teilzeit. Anders würden sich die beiden kaum sehen.

Auch Anja und Paula haben Teilzeitstellen, denn nachts zu arbeiten ist anstrengender als tagsüber. „Fünf Nachtschichten nacheinander sind nicht zu schaffen“, sagt Anja. Sie kämpft wie viele Menschen, die nachts arbeiten, mit Schlafproblemen und Müdigkeit. Um sich wach zu halten, trinkt sie viel Kaffee. „Ich bin ein Koffein-Junkie“, sagt sie.

Damit die Nachtarbeit nicht zu einer Gefahr für die Gesundheit wird, berechtigt das Arbeitszeitgesetz Nachtarbeiter:innen zu regelmäßigen arbeitsmedizinischen Untersuchungen. Bis zum vollendeten 50. Lebensjahr alle drei Jahre, danach sogar jährlich. Die Untersuchungen sind freiwillig, die Kosten müssen Arbeitgeber:innen übernehmen. Bei den Untersuchungen bekommen die Schichtarbeiter:innen Tipps, auf welche Ernährung sie achten müssen, um besser mit der Nachtarbeit klarzukommen, oder was sie gegen Schlafstörungen tun können.

Stellt sich heraus, dass die Nachtarbeit die Gesundheit der Arbeitnehmer:innen gefährdet, sind Arbeitgeber:innen verpflichtet, sie auf einen geeigneten Tagesarbeitsplatz zu versetzen. Das gilt auch, wenn die Arbeitnehmer:innen Kinder unter zwölf Jahren oder schwer pflegebedürftige Angehörige haben, die anders nicht betreut werden könnten.

Oft bleibt nicht genug Zeit für Pausen

Arbeitgeber:innen sind laut Arbeitszeitgesetz dazu verpflichtet, Schichtpläne nach „gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen“ zu gestalten. Das BAuA hat entsprechende Richtlinien für Arbeitgeber:innen entwickelt. Darin heißt es, die Anzahl der aufeinanderfolgenden Nachtschichten sollte möglichst gering, die Ruhepausen danach so lang wie möglich sein – mindestens 24 Stunden. Ob sich alle Unternehmen an die Richtlinien halten, ist fraglich. Spezielle arbeitsrechtlich verankerte Präventionsmaßnahmen für psychische Erkrankungen gibt es nicht.

Bei Paula, Anja und Marc kommen die Pausen oft zu kurz. Nicht nur Paula wird auf der Onkologie durch ein Klingeln aus der Pause gerissen. Auch Anja springt vom Pausentisch auf, sobald ein Gast ein neues Bier bestellt. Und auch Marcs Pausen sind wegen des Fahrplans oft zerstückelt. Ist er wegen eines Unfalls oder Bauarbeiten später dran als geplant, geht das von seiner Pause ab.

Nachtarbeit sei nicht nur körperlich, sondern auch psychisch anstrengend, erzählt Paula. Viele ihrer Kolleg:innen, die schon länger in der Pflege arbeiten, fühlen sich deshalb ausgebrannt. Sie will es so weit nicht kommen lassen. Direkt nach ihrer Ausbildung reduzierte sie auf 80 Prozent, auch wenn das heißt, dass sie weniger verdient. „Das Geld wiegt in keinster Weise die gesundheitliche und mentale Belastung auf“, sagt sie. Es gehe dabei nicht nur um ihr Wohl, sondern auch um das ihrer Patient:innen. Je höher die Arbeitsbelastung sei, desto weniger könnten sie sich auf die Patient:innen einlassen. Viele ihrer Kolleg:innen seien bereits abgestumpft.

 

Um 6.30 Uhr haben die drei Feierabend.

Marc fährt den Nachtbus auf den Betriebshof.

Paula schwingt sich vor der Klinik aufs Rad.

Anja verlässt ihren Platz hinterm Tresen und steigt in die S-Bahn nach Hause.

„Da kiek ich noch ein bisschen in die Glotze, zock vielleicht mit dem Handy“, sagt Anja. Dann geht es ins Bett. Länger als fünf Stunden schläft sie selten. Spätestens um 14.30 Uhr klingelt der Wecker. Der Alltag wartet. Dann heißt es: Wäsche waschen, einkaufen und kochen. Anja hat einen Mann und eine 16-jährige Tochter, einen Hund und eine Katze. „Die haben auch Ansprüche“, sagt Anja und lacht. Der Tag ist schnell vorbei. Um 22 Uhr muss sie schon wieder in der Kneipe sein.

Trotzdem liebt Anja ihre Arbeit, etwas anderes machen will sie nicht. Und auch Paula ist gerne Pflegerin. Nachtarbeit gehört für beide dazu. Doch muss sich die Arbeitsbelastung reduzieren, da sind sie sich einig. Sie wünschen sich bessere Bezahlung, mehr Personal und längere Erholungsphasen, damit sie ihre Jobs noch lange ausüben können.

Marc hat sich mittlerweile auf einen Bürojob beworben. Er will klassisch am Schreibtisch arbeiten, nachmittags fertig sein, damit er mehr Zeit für seine Freundin und die gemeinsamen Haustiere hat. Und vor allem: nicht mehr die Nacht zum Tag machen muss.

*Anja und Marc möchten ihren vollen Namen hier nicht lesen.

Titelbild: Aliona Kardash/laif

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