Kultur

Suchen Newsletter ABO Mediathek

Ich bin raus

Wie wäre es, komplett aus der digitalen Welt auszusteigen? Im Roman „Zeiten der Langeweile“ spielt Jenifer Becker diesen Gedanken so radikal durch, dass es nicht nur die Hauptfigur, sondern auch die Lesenden verstört

Digital

Im echten Leben hat Mila Meyring die vergangenen fünf Jahre zwischen Hildesheim und Berlin verbracht, mit einer Dissertation über die Heldinnenreise in der Populärkultur. Im viel echteren Leben des Internets hat die Anfang 30-Jährige ihre eigene Heldinnenreise erst noch vor sich. Denn sie will aussteigen aus der digitalen Welt und damit ihrer größten Angst zuvorkommen, dass sich irgendwann einmal etwas, das sie gesagt oder geschrieben hat, über ihr zusammenbrauen und sie vernichten könnte. Sie löscht sich auf Twitter und Instagram, TikTok und Facebook. Wie jede größere Katastrophe beginnt auch diese erst mal harmlos.

Jenifer Beckers Debütroman „In Zeiten der Langeweile“ ist kein Selbsthilferatgeber über Digital Detox oder analoge Achtsamkeit, sondern das spektakuläre Protokoll einer Nahtoderfahrung. Denn Löschen und Sterben, das legt der Roman nahe, ist in einer durchdigitalisierten Welt dasselbe.

Bald fühlt sich das Lesen wie ein Selbstversuch an

Auf immer abgelegeneren Seiten des Internets sucht Mila nach Spuren von sich. Nach Foreneinträgen und Fotos, auf denen sie im Hintergrund zu sehen sein könnte, nach einem Artikel, der auf sie verweist, oder nach einem Pseudonym, unter dem sie einen frühen Text veröffentlicht hat. Rigoros lässt sie alles entfernen. Kämpft mit den Betreiber:innen der Websites um ihr Recht auf Vergessenwerden. Und der digitale Rückzug hat zunehmend auch Konsequenzen in ihrem analogen Leben. So kündigt sie ihren Lehrauftrag an der Universität, weil die ihr Foto nicht von der Website nehmen will, solange sie dort unterrichtet. Arbeitslos, verlässt Mila kaum noch ihre kleine Wohnung im Ballungsgebiet Berlins. Sie meidet Tourist:innen und Teenager, umgeht sämtliche Orte, die als Fotomotiv herhalten und später mit ihr im Hintergrund online gehen könnten. So geht sie bald nur noch nachts einkaufen, und erst mit der anbrechenden Dunkelheit schleicht sie sich in ein 24-Stunden-Fitnessstudio.

langeweile.jpeg

Zeiten der Langeweile
Jenifer Beckers „Zeiten der Langeweile“ erscheint am 21. August bei Hanser Berlin

Was als Geste der Selbstermächtigung beginnt, wird zu der Geschichte eines unkontrollierten Kontrollversuchs, einer über 200 Seiten langen Irrfahrt in die Einsamkeit. Die Angst, alles zu verlieren, wenn der Internetzugang verloren geht, wird hier durchgespielt. Was dieses Gedankenspiel in den Leser:innen auslösen kann, lässt sich vielleicht am besten bildlich beschreiben: Man könnte sagen, die digitale Sphäre ist für viele Menschen längst zu ihrem natürlichen Lebensraum geworden. Doch wie Fische, die nichts von dem Wasser wissen, das sie umgibt, weil sie es ja nicht anders kennen, nehmen die Menschen diesen Lebensraum nicht wahr. Beckers waghalsiger Vorstoß mit diesem Roman besteht darin zu sagen: Das ist Wasser. Hier ist eine Strömung. Da ist es wärmer, hier kälter. Und da geht es ganz tief runter. Und so fühlt sich das Lesen bald auch wie ein Selbstversuch an, bei dem sich immer mehr die Frage aufdrängt: Wo beginnt Wahnsinn? Wenn Fische nicht wissen, dass sie im Wasser sind, oder wenn ein Fisch versucht, an Land zu gehen?

 

Die Sprache, die Becker dafür findet, lebt von einer gegenwartsgesättigten Detaildichte, die voller Humor ist und von großer Leichtigkeit. Es sind Sätze, die auf dem festen Boden des Alltags stehen und jederzeit bereit sind, sich in philosophische Höhen abzustoßen. Das klingt dann so: „Mir fiel jetzt erst auf, wie viel Zeit ich in den letzten Jahren scrollend verbracht hatte. Auf einmal erstreckte sich der Tag vor mir wie eine fünfte Dimension, die ich eigentlich irgendwann in meiner Kindheit verlassen hatte.“ Doch die titelgebende Langeweile, die hier anklingt, ist kein Sehnsuchtsort, keine Vorstufe zenbuddhis­­tischer Verheißung, sondern ein rasender Zustand der Ungeduld. Eine Aufregung, die sich auf die Leser:in überträgt und um die Hauptfigur bangen lässt, als die sich schließlich auf einer abgelegenen Insel im norwegischen Meer wiederfindet.

Es geht hier um einen Aufbruch zu alten Ufern

„Zeiten der Langeweile“ ist ein raffinierter Roman voller Referenzen. Er ist die deutsche Antwort auf Ottessa Moshfeghs Welterfolg „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“, in dem eine Frau versucht, ihr Leben ein Jahr lang mit Schlaftabletten zu pausieren. Gleichzeitig ist er auch eine Variation der „Robinsonade“ – dieser uralten Geschichte von Robinson Crusoe, der auf einer einsamen Insel landet, abgeschnitten von der Zivilisation, die er aus eigener Kraft wiederherstellen muss. Becker stellt in ihrem Debüt das ganze Genre auf den Kopf. In ihrer umgekehrten Robinsonade geht es nicht um die Wiederherstellung der Zivilisationstechniken, um die Neuerfindung des Feuers und einen Ausweg von einer Insel. Es geht um den Ausbruch aus einer allumfassenden Technologie und den Aufbruch zu alten Ufern. Es geht um die Suche nach der Insel in dem Wasser, das uns umgibt. 

Titelbild: Delfina Carmona / Connected Archives

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.