Das belebt die Demokratie

Sara Geisler findet: Wer mitbestimmen darf, wendet sich nicht so schnell ab und informiert sich besser – vor allem dann, wenn er sonst nicht mitmachen darf. Natürlich muss es klare Regeln geben

Im Grundgesetz steht: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ In Deutschland heißt das in der Regel: alle paar Jahre ein Kreuzchen machen, seine Stimme an Vertreter abgeben und dann in der „Tagesschau“ verfolgen, was die daraus machen. Mit dem Ergebnis zufrieden sind damit am Ende nicht so viele; an den letzten Wahlergebnissen in und um Deutschland (Österreich, Tschechien, Polen) lässt sich das schön beobachten.

Mehr Volksentscheide bedeuten, dass sich die Bevölkerung weniger bevormundet fühlt

Schon Kinder protestieren, wenn man ihnen Ponchos oder Flötenunterricht aufdrückt, ohne sie nach ihrer Zustimmung zu fragen. Wenn über meinen Kopf hinweg Entscheidungen getroffen werden, die ich nicht gut finde, bin ich mindestens irritiert, bei Wiederholung wütend, bei anhaltendem Muster verdrossen. Manche Menschen werden auch anfällig für Taten, die sie später möglicherweise bereuen. Drei von fünf AfD-Wählern stimmten bei der Bundestagswahl nicht deshalb für die Partei, weil sie von ihrem Programm überzeugt sind. Sie taten es, weil sie auf die Entscheidungen der anderen Parteien einfach keinen Bock mehr hatten.

Wer mitbestimmen darf, wendet sich nicht so schnell ab. Mehr Volksentscheide bedeuten automatisch, dass sich die Bevölkerung weniger bevormundet und mehr einbezogen fühlt. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung zeigt: Bürgerbeteiligung stärkt nicht nur das politische Interesse, sondern erhöht auch die Akzeptanz von Politikentscheidungen. Wenn Menschen mit einer Entscheidung inhaltlich nicht einverstanden sind, sind sie eher bereit, sie zu akzeptieren, wenn sie vorher die Möglichkeit hatten, am Prozess teilzuhaben.

Nun warnen Kritiker, das gemeine Volk wäre viel zu doof, viel zu irrational für das alles. Sie deuten nach Großbritannien oder nach Tegel. Ich frage mich dann immer: Ja, aber über das Parlament entscheiden zu lassen geht okay? So zu tun, als wäre die Entscheidung für eine politische Richtung, den Regierungsstil der nächsten Jahre, ja ganze Pakete an Vorhaben weniger folgenschwer als die Entscheidung, ob man einen Flughafen offen hält oder nicht, ist doch seltsam.

Aber gerne ein paar Maßnahmen zur Qualitätssicherung einbauen

Um ganz sicher zu sein, nicht plötzlich außerhalb der EU oder in einem Land mit Burkaverbot aufzuwachen, darf man gerne ein paar Maßnahmen zur Qualitätssicherung einbauen.

Erstens: Aufpassen, dass Volksentscheide nicht von Populisten instrumentalisiert werden.
Für Referenden – hier kommt die Initiative und die Ausarbeitung eines Gesetzentwurfs nicht aus dem Volk, sondern vom Parlament – gilt dasselbe. Anfangen könnte man damit, die Art der Fragestellung von einem unabhängigen Komitee prüfen zu lassen. In Ungarn legte die Regierung ihrem Volk vor einem Jahr die Suggestivfrage vor, ob sie sich von Europa die Ansiedlung fremder Menschen aufzwingen lassen solle. Beim Berliner Volksentscheid über die Zukunft Tegels Ende September wurde die Abstimmung mit dem Satz eingeleitet: „Der Flughafen Berlin-Tegel ‚Otto-Lilienthal‘ ergänzt und entlastet den geplanten Flughafen Berlin Brandenburg ‚Willy Brandt‘ (BER).“ Da kann man die Bürger gleich fragen, ob sie weniger Feiertage wollen und dafür mehr Steuern zahlen.

Der amerikanische Forscher James Fishkin hat einmal sinngemäß gesagt: Bei einer Umfrage werden die Leute gefragt, was sie denken, wenn sie nicht denken. Als zweite Sicherungsmaßnahme wäre deshalb gut: Nur Informierte abstimmen lassen. Das mag extrem klingen, aber die Führerscheinprüfung darf auch nur antreten, wer im Theorieteil bewiesen hat, die Straßenregeln zu kennen. Uninformierte Wahlentscheidungen können ähnlich gemeingefährlich sein wie ein betrunkenes Kind hinterm Steuer. Auf keinen Fall verwechseln sollte man diesen Vorschlag mit jenem, nur besonders intelligente Menschen wählen zu lassen – das ist Quatsch und hat mit Demokratie nichts zu tun.

Wie stellt man sicher, dass nicht nur die Gebildeten und Privilegierten zur Abstimmung kommen?

Wie kann man dem Urnengang vorgeschaltete Wissenstests gestalten, damit sie fair sind? Wie stellt man sicher, dass nicht nur jene zur Abstimmung kommen, die gebildet und privilegiert sind? Einige schlaue Leute, zum Beispiel der belgische Historiker David Van Reybrouck, haben sich dazu schon Gedanken gemacht. Die Vorschläge reichen von verpflichtenden Abstimmungen per Losverfahren bis zu bezahlter Recherche.

Dass Volksbegehren Land und Demokratie kamikazeartig aus den Angeln heben, braucht man übrigens sowieso nicht zu befürchten: In Deutschland können Anträge auf die Durchführung eines Volksbegehrens vom Bundesverfassungsgericht darauf geprüft werden, ob der vorgelegte Text Grund- und Minderheitenrechte verletzt. Selbst wenn hierzulande Volksentscheide auf Bundesebene möglich wären: Verstößt einer gegen das Grundgesetz, landet er eh in der Tonne. Eine Abstimmung über ein Minarettverbot, wie sie 2009 in der Schweiz durchgeführt wurde, käme in Deutschland zum Beispiel nicht infrage.

Bürger dazu zu bewegen, sich mit komplexen Themen auseinanderzusetzen, anstatt einfach den Politiker zu wählen, der bei letzten TV-Diskussion den schönsten Blazer anhatte, hätte auch noch einen netten Nebeneffekt: Politiker würden dazu gezwungen, faktischer zu diskutieren. Falschinformationen wie die während der Nein-Kampagne der ungarischen Regierung – „Wussten Sie, dass Brüssel eine ganze Stadt voller Flüchtlinge in Ungarn errichten will?“ – hätten eine viel kleinere Chance, ernst genommen zu werden. Und sich als Bürger nicht für blöd verkaufen zu lassen – egal ob es nun um eine Volksabstimmung geht oder die nächste Landtagswahl – ist schließlich immer gut.

Angesichts der Verve, mit der Sara Geisler für mehr Volksentscheide eintritt, könnte man meinen, dass sie Schweizerin ist. In Wahrheit kommt sie aber aus Österreich und führt zur Begründung noch an, dass sie eben gerne „ummagschaft’ln mag“, wie man bei ihr zuhause sage – also gerne mitmischen möchte. Das tut sie auch als feste Redakteurin in der Berliner fluter-Redaktion.

Lass das mal die Profis machen

Veronika Dreßler hält dagegen: Nicht ohne Grund haben wir Abgeordnete im Parlament, die uns repräsentieren und nach eingehender Analyse vernünftige Entscheidungen treffen – und nicht aus dem Bauch heraus

Traditionell trifft sich unser Freundeskreis alle vier Jahre nach der Bundestagswahl in einem unserer Wohnzimmer zur sogenannten Wahlparty. Normalerweise diskutieren wir Mittdreißiger dann eifrig über die ersten Hochrechnungen und backen Wahltorten, dieses Jahr jedoch gab es ein Thema, das die meisten von uns genauso beschäftigte wie die Sitzverteilung im Deutschen Bundestag; die Tegelfrage: Soll der Flughafen geöffnet bleiben oder geschlossen werden?

Menschen treffen Entscheidungen in der Regel nicht auf Grundlage einer systematischen, objektivierbaren Analyse aller Möglichkeiten

Mindestens die Hälfte von uns hatte gemeinsam die Schulbank am Carl-von-Ossietzky-Gymnasium in Pankow gedrückt und konnte sich noch lebhaft an die Auswirkungen des Fluglärms erinnern. Wenn im Sommer die Temperaturen stiegen und es in den Klassenräumen, die direkt unter der Einflugschneise lagen, unerträglich heiß wurde, fand der Unterricht ausnahmsweise bei geöffnetem Fenster statt und es herrschte Chaos. Einige Lehrer versuchten angestrengt, den Lärm mit ihrer Stimme zu übertönen, gaben aber spätestens nach der vierten Stunde auf. Andere schwiegen so lange, bis der dröhnende Koloss vorbeigeflogen war, was bedeutete, dass sie ein Drittel des Unterrichts gar nichts sagten. Ganz egal, was sie taten, wir Schüler bekamen kaum etwas vom Stoff mit, waren genervt und mussten oft bis nach dem Klingelzeichen im Klassenraum verbleiben. Doch nicht nur in der Schule, auch im Garten der Großeltern, beim Volleyballspielen oder im Park war der Lärm gegenwärtig. Kurzum: Unsere Lebensqualität war eingeschränkt.

Umso mehr entsetzten uns an diesem Abend die ersten Hochrechnungen des Volksentscheids. Über 50 Prozent stimmten für die Offenhaltung Tegels? Wie konnte das sein?

Meine alten Mitschüler regten sich furchtbar auf, und diejenigen, die noch immer in Pankow leben, fingen an zu fluchen. Alles AfD-Wähler oder zumindest FDP, schimpften sie. Bis Julia, die ursprünglich aus Köln kommt, inzwischen im Friedrichshain wohnt und selten in Pankow war, einwarf: „Also ich habe auch für den Erhalt gestimmt. Das ist halt total praktisch für mich. Mit der Ringbahn bin ich in 20 Minuten da.“ Verständlich, dass sie für die Offenhaltung gestimmt hat. Für sie ist Tegel einfach: pragmatisch, praktisch, gut.

Menschen treffen Entscheidungen in der Regel nicht auf Grundlage einer systematischen, objektivierbaren Analyse aller Möglichkeiten. Sie wägen nicht immer ab, welche langfristigen Auswirkungen ihr eigener Standpunkt auf das Wohl anderer haben könnte. Sie verhalten sich bei Entscheidungsfindungen vorrangig nach dem heuristischen Prinzip. Mehr als nach ihrer Vernunft urteilen sie nach ihrer momentanen Gefühlslage.

Nicht umsonst haben wir Abgeordnete, die unsere Interessen im Parlament vertreten

Knapp 300.000 Menschen im Umkreis vom Tegeler Flughafen leben mit Dauerlärm, bei rund 134.00 von ihnen beträgt dieser über 60 Dezibel, was etwa der Lautstärke eines im Abstand weniger Meter vorbeirasenden Pkws entspricht. Die Anrainer in der Einflugschneise sind für die Schließung des Flughafens, weil es sie persönlich betrifft. All diejenigen, deren alltägliches Wohlergehen nicht beeinträchtigt ist, stimmen vermutlich nach ihren eigenen Prioritäten ab. Kann ich den Flughafen leicht erreichen? Ist die Anbindung gut? Oder stimme ich einfach nur deshalb für die Offenhaltung, weil für mich nichts dagegen spricht? 

Nicht umsonst haben wir Abgeordnete, die unsere Interessen im Parlament vertreten und Entscheidungen im Sinne des Gemeinwohls treffen sollen. Sie stehen in der Verantwortung, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln, dementsprechend setzen sie sich im Idealfall intensiv mit dem jeweiligen Sachverhalt auseinander und treffen Entscheidungen auf Grundlage einer sorgfältigen Expertise. Auch wenn ein Abgeordneter nicht vollkommen frei von subjektiver Einflussnahme ist, er wird in vielen Fällen objektiver entscheiden als die Bevölkerung. Die Auswirkungen der Entscheidung über den Flughafen Tegel wären überschaubar.

Im Affekt Entscheidungen getroffen werden, die den demokratischen Grundsätzen entgegenwirken

Man stelle sich jedoch einen Volksentscheid über ein Einwanderungsgesetz oder das Aufenthaltsrecht nach Anschlägen in Paris oder Berlin vor. Wenn Populisten an dieser Stelle das Volksbegehren vorantreiben, könnten im Affekt Entscheidungen getroffen werden, die den demokratischen Grundsätzen entgegenwirken. Dazu kommt, dass nachweislich höhere und mittlere Schichten sowie Interessengruppen an Volksentscheiden teilnehmen. Nicht die Meinung des Volkes in seiner Gesamtheit, sondern die Überzeugungen partikularer Gruppen entscheiden in diesem Fall über eine gesamte Bevölkerung. Aus diesem Grund können Volksentscheidungen eine unvorhersehbare Gefahr für die demokratische Gesellschaft darstellen und an dem vorbeigehen, was sie eigentlich beabsichtigen: das Volk zu repräsentieren.

 

Anika Dreßler ist freiberufliche Journalistin und hat ihre Kindheit und Jugend im Berliner Bezirk Pankow verbracht. Nach dem Abstimmungsergebnis über den Flughafen Tegel steht sie nach dem Motto „Schlimmer geht immer“ Volksentscheiden eher skeptisch gegenüber.

Collagen: Renke Brandt