Thema – Angst

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Gerade darum

In Deutschland ist der Hass auf Juden immer noch weit verbreitet. Eine junge jüdische Community in Berlin-Neukölln verwehrt sich der Opferrolle und geht einen eigenen Weg

Rabbinerin Rebecca Blady / Bauarbeiten

In Neukölln steht die große Uhr am Rathaus auf sechs, in den Straßen ringsum bereiten sich die Barbetreiber auf den alltäglichen Ansturm vor, denn selbst an einem Mittwochabend wird hier in ein paar Stunden alles voll sein: Kneipen, Spätis, Shishabars. Mittendrin befindet sich in einem Erdgeschoss das jüdische Gemeindezentrum Hillel.

Eine junge Frau zündet Kerzen an, legt auf jeden Platz einen Text, über den sie gleich in der Gruppe sprechen möchte. Die Wände sind bemalt, die Einrichtung ist zusammengewürfelt wie in einem Jugendzentrum. Heute Abend findet eine Midrasch statt, so heißt es im Judentum, wenn über religiöse Texte gesprochen wird. Die Gruppe ist klein und besteht fast ausschließlich aus jungen Frauen. Das Thema heute ist schwierig, denn es geht um die Frage: Wo war Gott, als der Holocaust passierte?

Ein Treffpunkt in diverser Nachbarschaft

Treffpunkte außerhalb von Synagogen, wo junge Jüdinnen und Juden zusammenkommen, um sich solche Fragen zu stellen und neue Zugänge zum Glauben zu finden, sind selten. In den letzten Monaten und Jahren gab es immer wieder Berichte über antisemitische Übergriffe. Der Zentralrat der Juden spricht schon seit einer Weile von „Problemvierteln“ in Berlin, gerade wenn dort viele Menschen islamischen Glaubens leben wie in der Sonnenallee oder der Karl-Marx-Straße.

Warum also ausgerechnet hier ein jüdisches Zentrum gründen? „Hier leben viele junge Menschen“, sagt die Rabbinerin Rebecca Blady, die aus den USA stammt und den Hillel-Standort in Berlin gemeinsam mit ihrem Mann Jeremy gründete. „Es gibt viele Möglichkeiten, eine sehr diverse Nachbarschaft und viele Menschen mit Migrationserfahrung.“

Wie steht sie zu dem Thema Antisemitismus in Neukölln? Blady sagt: „Der Antisemitismus nimmt gerade auf der ganzen Welt zu, nicht nur in Neukölln.“ Sie sagt auch: „Immer wenn ich Antisemitismus erlebt habe, und ich habe viel davon erlebt, ging er von weißen deutschen Rechtsradikalen aus.“ Arabisch sprechende Menschen seien ihr gegenüber noch nie gewalttätig geworden. Sie sieht die vielen Muslime in Neukölln eher als Verbündete. „Unsere Nachbarn haben ähnliche Erfahrungen mit Diskriminierung gemacht wie wir. Sie leben als Minderheit in der deutschen Mehrheitsgesellschaft.“

Jüdische Gemeinde
Diskutieren, sich engagieren …

Gern erinnert sie sich an das letzte jüdische Lichterfest im Dezember 2022. Sie hatten die Idee, am Rathaus Neukölln die Chanukkia – den achtarmigen Leuchter – aufzustellen. Niemand im Kiez habe sich daran gestört, also stand der Leuchter die vollen acht Tage von Chanukka vor dem Rathaus.

Andere haben andere Erfahrungen gemacht. Antisemitische Parolen bei propalästinensischen Protesten in Neukölln am Ostersamstag dieses Jahres und das Nichteinschreiten der Polizei zeichnen das Bild eines judenfeindlichen Klimas.

Hillel, benannt nach einem einflussreichen Lehrer des Judentums, ist nach eigenen Angaben weltweit die größte jüdische Studierendenorganisation. Unter der Leitung der Bladys treffen in Neukölln junge Menschen aufeinander, um zu diskutieren, zu beten, zu feiern und gemeinsam zu lernen. Hillel bezeichnet sich als „radikal divers“, das bedeutet: Sie sind offen für alle Jüdinnen und Juden, ungeachtet der Nationalität oder ihres Hintergrunds.

„Ich habe keine Angst. Aber nur weil ich keine Angst habe, heißt das nicht, dass die Angst der anderen nicht legitim wäre“

„Ich glaube, dass es die deutsche Mehrheitsgesellschaft gern hat, wenn sich Jüdinnen und Juden als Opfer sehen“, sagt Mischa Ushakov, ein junger Mann Mitte 20 mit wild abstehenden Haaren und einem Siebentagebart. Ushakov arbeitet als Fellow für Hillel, letztes Wochenende hat er zum Beispiel einen Techno-Schabbat angeboten, eine eher ungewöhnliche Art, den wöchentlichen Ruhetag vom Freitag- bis Samstagabend zu begehen. An anderen Tagen veranstaltet er Spaziergänge durch die Nachbarschaft, um zu schauen, wo und wie man helfen kann. Und bald soll es eine Veranstaltung geben, bei der es um jüdische Sichtweisen auf Migration und den Umgang mit Geflüchteten geht.

An einem frühen Sommerabend steht Rebecca Blady auf dem Tempelhofer Feld und reckt die Arme zum Himmel. Heute gibt sie in Shirt und Leggings eine Yogastunde. „Aufrecht zu stehen ist manchmal die große Herausforderung“, sagt Blady mit einem Lächeln in die Runde. Die Abendsonne strahlt sie von hinten an, und es fällt plötzlich sehr leicht, sie sich als erleuchtete Rabbinerin vorzustellen.

 
Party
… und Party machen: In der jüdischen Community in Neukölln sind vor allem Studis aktiv

Rebecca Blady und ihr Mann kamen 2016 erstmals nach Berlin und verbrachten den Sommer in der Stadt. Sie spürten gleich, dass es hier eine Aufgabe für sie gibt. Denn Berlin ist für Rabbinerinnen und Rabbiner eine echte Herausforderung, weil viele Jüdinnen und Juden unterschiedlichster Identitäten in der Stadt leben, man jüdisches Leben dennoch kaum sieht. Anders als in Israel oder den USA fehlen in Deutschland die Strukturen, vor allem für junge Menschen. Die Bladys wollten das ändern und kamen zurück. 2021 fanden sie schließlich einen Raum in Neukölln, der perfekt passte: einen Ort, den sie selber gestalten und zum Mittelpunkt einer lebendigen Community machen konnten.

Stichwort Antisemitismus 

Antisemitische Einstellungen sind in der gesamten Gesellschaft weit verbreitet. Die meisten Übergriffe auf Juden und Jüdinnen sind Studien zufolge auf eine rechtsextreme Motivation zurückzuführen. Aber auch unter Musliminnen und Muslimen lassen sich antisemitische Einstellungsmuster finden – insbesondere israelbezogener Antisemitismus.

Kritik an israelischer Politik ist nicht gleich antisemitisch. Aber sie kann es sein, wenn zum Beispiel die Ablehnung des gesamten Staates Israel auf antisemitischen Vorurteilen beruht – oder die israelische Politik mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt wird. Gründe dafür könnten etwa eigene Diskriminierungserfahrungen und – sofern eine Migrationsbiografie vorliegt – die starke Propagierung von Antisemitismus in den Herkunftsländern sein.

Du willst mehr über Antisemitismus erfahren? Klick mal hier: bpb.de/antisemitismus

Von außen deutet nichts darauf hin, dass hier eine junge jüdische Community zusammenkommt – und das soll es auch nicht, denn jüdische Einrichtungen sind in Deutschland immer noch einem hohen Risiko ausgesetzt. Gemeinsam mit Freunden aus Berlin besuchte Rebecca Blady am 9. Oktober 2019 die Synagoge in Halle, als ein Rechtsextremist einen Anschlag darauf verübte, der dem ganzen Land schlagartig klarmachte, wie gefährdet und verletzlich jüdisches Leben auch fast 80 Jahre nach dem Nationalsozialismus noch ist. Lediglich die Tür der Synagoge schützte an dem Tag die Menschen vor den Plänen des Attentäters.

Dieses Ereignis hat Blady – wie viele andere Jüdinnen und Juden auch – politisiert. Sie will die Opferrolle, die der jüdischen Gemeinschaft oft zugeschrieben wird, verändern: „Wir sind als Jüdinnen und Juden keine Opfer, sondern Teil der Zivilgesellschaft und wollen einen Impact haben“, sagt sie. Ein Jahr nach dem Attentat veranstaltete Hillel das „Festival of Resilience“, zu dem mehrere Communitys zusammenkamen, um sich gemeinsam widerständig zu zeigen und an die Opfer der Gewalt zu erinnern; insbesondere an Jana L. und Kevin S., die der Attentäter nach seinem vergeblichen Versuch, in die Synagoge einzudringen, erschossen hatte.

Hat sie keine Angst, dass auch Hillel in den Fokus von Attentätern geraten könnte, gerade weil der Ort in Neukölln vergleichsweise ungeschützt ist? Blady schüttelt den Kopf. „Ich habe keine Angst. Aber nur weil ich keine Angst habe, heißt das nicht, dass die Angst der anderen nicht legitim wäre“, sagt sie. Tatsächlich kommen einige zu den Treffen nur mit Bedenken, andere gar nicht, weil sie sich nicht sicher fühlen.

„Wir können Akzente setzen“, sagt Ushakov, und die beste Art, sichtbar zu werden, sei es, es nicht allein zu versuchen. „Wir müssen uns sagen: Ey, wir haben Leute um uns herum, die uns kennen und die uns schätzen.“ Sich mit denen zusammenzuschließen, dafür sei Neukölln genau der richtige Ort. „Ich glaube, wir sind hier gut aufgehoben.“

Dieser Text ist im fluter Nr. 88 „Neukölln” erschienen. 
Das ganze Heft findet ihr hier.

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