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Ganz neues Level

Mathe mit „Mario Kart“? Geschichte mit „Assassin’s Creed“? Manche Lehrkräfte sehen Games im Unterricht als große Chance

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Ganz neue Levels

Eine verhüllte Gestalt sprintet die Treppen hinauf, vorbei an goldenen Statuen und Zypressen. Einige Passanten murren, schließlich ist die Akropolis ein heiliger Ort. Vor einem reich verzierten Tempel hält die Gestalt und blickt um sich. Eine Priesterin in langem Gewand reckt die Hände in die Höhe. Sie huldigt der Siegesgöttin Nike. Reliefs am Tempel zeugen von vergangenen Schlachten, im Hintergrund blitzen schneebedeckte Berge.

Geschichtsunterricht mal anders: An der Staatlichen Gemeinschaftsschule Kulturanum in Jena entdecken die Schülerinnen und Schüler das antike Griechenland mithilfe eines Computerspiels. „Assassin’s Creed Discovery Tour“ heißt die Reihe, die Spieler auch in die Welt der Wikinger oder der alten Ägypter mitnimmt. Eine Handlung gibt es nicht, die Spieler strömen frei durch die authentisch nachgestellten Landschaften und können dabei einen Plausch mit Sokrates halten, historische Schlachten erleben oder den Olympischen Spielen beiwohnen. Laut dem französischen Hersteller Ubisoft waren bei der Entwicklung dieser gewaltfreien Version Historiker und andere Wissenschaftler beteiligt.

Die realistische Darstellung begeistert auch den Jenaer Lehrer Christoph Kehl. „Das Spiel schafft es, den Eindruck zu erwecken, dass daran alles echt ist. Das steigert die Motivation bei den Schülern, wirft viele Fragen auf und bietet jede Menge Anknüpfungsmöglichkeiten für Diskussionen.“ Der 33-jährige Geschichtslehrer hat sich schon im Studium für Erinnerungskultur und digitales Gedenken interessiert. Heute setzt er regelmäßig Computerspiele im Unterricht ein. Die „Discovery Tour“ zuletzt im Herbst, als bei den Fünft- und Sechstklässlern das antike Griechenland auf dem Lehrplan stand. Seine älteren Schüler sind dank „Through the Darkest of Times“ einer Widerstandsgruppe in der NS-Zeit nähergekommen oder haben das Bild Napoleons in „Total War“ hinterfragt. Demnächst will Kehl versuchen, mit seinen Schülerinnen und Schülern in „Mission 1929“ die Weimarer Republik vor dem Untergang zu retten.

„Zu durchschauen, was das Spiel von mir möchte, ist eine wichtige Orientierungskompetenz“, sagt der Lehrer

„Für Geschichte gibt es viele tolle Spiele“, fasst Kehl seine Erfahrungen zusammen. Es gehe ihm aber nicht nur darum den Unterricht aufzulockern oder reines Faktenwissen zu vermitteln. Die Schüler sollen zum Beispiel darauf achten, warum manche Games so glaubwürdig rüberkommen. „Spiele, die realistisch aussehen, können besonders gut manipulieren“, so Kehl. Viele Games verleiteten Jugendliche dazu, Geld für Gegenstände wie neue Waffen im Spiel auszugeben. Für solche Gefahren wolle er seine Schüler sensibilisieren. „Zu durchschauen, was das Spiel von mir möchte, ist eine wichtige Orientierungskompetenz.“

Über die kritische Reflexion im Unterricht seien schon spannende Kontroversen entstanden. Etwa ob Hakenkreuze in einem Spiel über die NS-Zeit vorkommen sollten. Oder ob ein Videospiel das geeignete Medium ist, um sich mit den systematischen Ermordungen der Nazis zu befassen. Auch deshalb ist Kehl vom Einsatz von Games im Unterricht überzeugt: „So ein Reflexionsniveau mit einem Text im Buch zu erreichen ist schwer.“

Bei den Schülern kommt Kehls Unterricht gut an. „Ich fand das sehr, sehr cool“, sagt Sechstklässler Luka zur virtuellen Erkundung des antiken Griechenlands. Vor allem das Selberspielen hat ihm Spaß gemacht: „Man konnte so viel entdecken, mit Menschen sprechen oder auf alte Vasen klicken, und dann wurden Informationen eingeblendet.“ In seiner Freizeit zockt Luka wie viele seiner Klassenkamera- den „FIFA“ oder „Minecraft“. Mit Games Schulstoff zu lernen ist neu für den Zwölfjährigen. Bei ihm funktioniere es aber gut: „Das ist wie beim Aufschreiben von Vokabeln“, sagt Luka. „Wenn ich etwas selber mache, kann ich es mir besser merken.“

„Bei einem Buch kann man ein Kapitel nicht verstehen und weiterlesen. Bei einem Computerspiel geht es dann hingegen nicht weiter“, sagt der Wissenschaftler

Eine Beobachtung, die Jan Boelmann gut kennt. Der 42-Jährige ist Direktor des Freiburger Zentrums für didaktische Computerspielforschung. Seit 15 Jahren erforscht der Literatur- und Mediendidaktiker, unter welchen Umständen der Einsatz von Games im Unterricht sinnvoll ist. „Was Computerspiele von Büchern oder unterscheidet, ist die Interaktion“, so Boelmann. Die Schüler müssten sich viel aktiver mit dem Lerngegenstand auseinandersetzen. „Bei einem Buch kann man ein Kapitel lesen und es nicht verstehen. Bei einem Computerspiel hingegen geht es nicht weiter, wenn man die Spielhandlung nicht versteht.“

Mittlerweile belegen erste Studien, dass sich Games durchaus eignen, um Lehrplanziele zu erreichen. Und das nicht nur im Fach Geschichte. Bei einem Modellprojekt an Berliner Schulen, für das Boelmann und seine Freiburger Kollegin Lisa König Unterrichtskonzepte erstellt haben, kamen PC-Games auch in Englisch, Deutsch und Mathe zum Einsatz. Mehr als 400 Achtklässler machten mit.

Ein Großteil der beteiligten Lehrkräfte erlebte sie dabei als engagiert und motiviert. Vor allem der Einfall, Statistik mithilfe von „Mario Kart“ zu vermitteln, kam gut an. In dem Spiel erhalten die Fahrer während des Rennens Bananen, Turbopilze oder andere mehr oder weniger nützliche Gegenstände. Wer vorne liegt, erhält jedoch schlechtere Items als die weiter hinten im Feld. Diesen Zusammenhang sollten die Schüler – nach dem Spielen – anhand der erreichten Platzierungen ausrechnen.

„‚Mario Kart‘ hat voll eingeschlagen“, erzählt Çiğdem Uzunoğlu, Geschäftsführerin der Stiftung Digitale Spielekultur, die das Modellprojekt geplant und durchgeführt hat. Besonders bei Schülern, die sich sonst eher nicht so für das Fach interessierten. Das Beispiel zeige, welches Potenzial Games gerade für Jugendliche bieten, die sich sonst eher zurückhaltend am Unterricht beteiligen. Gleichzeitig sehe man bei „Mario Kart“, wie wichtig die Aufgabenstellung der Lehrkraft sei. Erst dadurch lernten die Kinder etwas über Wahrscheinlichkeitsrechnung, so Uzunoğlu: „Bloß zu zocken bringt den Kids im Unterricht nichts, außer Spaß natürlich.“

„Das ist wie beim Aufschreiben von Vokabeln. Wenn ich etwas selber mache, kann ich es mir besser merken“, sagt der Schüler

Ähnlich formuliert es Didaktikexperte Boelmann: „Games sind kein Allheilmittel. Es braucht eine klare Idee, welche Kompetenzen daran erworben werden sollen.“ Dazu gehöre, ein geeignetes Spiel auszuwählen. Wer unsicher ist, wird am Zentrum für didaktische Computerspielforschung fündig.

Mehr als 130 empfehlenswerte Games stellen Boelmann und sein Team dort vor – inklusive Hinweisen, in welchen Fächern und Jahrgangsstufen sie eingesetzt werden können. Zu Boelmanns aktuellen Highlights gehört „Papers, Please“, das die Zwänge von Grenzbeamten in totalitären Regimen aufzeigt. Oder „Rabbids Coding“, das auch Neueinsteigern Grundlagen des Programmierens beibringt. Die Datenbank soll Lehrkräften den Zugang erleichtern.

„Das Interesse an Schulen ist da“, beobachtet Boelmann. Allerdings gebe es zum Teil große Hürden. Und die fangen bei der Hardware an. Bei Spielen, die grafisch ansprechend sind, sind Schulrechner schnell überfordert. Und selbst in Städten ist schnelles WLAN noch keine Selbstverständlichkeit. Die Erfahrung hat auch Çiğdem Uzunoğlu gemacht: „Bevor unser Modellprojekt starten konnte, mussten wir für mehrere Schulen erst mal Tablets oder WLAN-Router leihen.“ Ein weiteres Hindernis seien fehlende IT-Kräfte. Für das Aufspielen der Games auf die Tablets mussten sich die Schulen an die jeweiligen Schulträger wenden.

fluter-Cover Spiele

Dieser Text ist in fluter Nr. 87 „Spiele” erschienen. Das ganze Heft findet ihr hier.

Geschichtslehrer Kehl aus Jena hat da mehr Glück. Dank eines Kooperationspartners für E-Sports gibt es an seiner Gemeinschaftsschule fünf leistungsstarke Rechner. Zudem stehen auch iPads für zwei ganze Klassen bereit. Ein ungelöstes Problem seien die Spielelizenzen, so Kehl. Weil Computerspiele offiziell nicht als Unterrichtsmaterialien anerkannt sind, müssen im Zweifel die Schule oder die Lehrer selbst in die Tasche greifen, wenn Spielehersteller den Schulen keinen kostenlosen Zugang gewähren. Günstiger wäre es, wenn Land oder Kommune die Lizenzen kaufte – und dann allen Schulen zur Verfügung stellte. Dann würden vielleicht auch Kehls Kollegen öfter Games im Unterricht einsetzen. Das wünscht sich auch Schüler Luka: „Ich fände das richtig cool.“

Illustration: Frank Höhne

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.