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„Wir müssen weg von: So läuft das eben. Nein, tut es nicht!“

Wie verbreitet ist sexualisierte Gewalt in der Musikbranche, und was ließe sich dagegen tun? Ein Gespräch mit Musikmanagerin und Awareness-Expertin Johanna Bauhus

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Rammstein Protest

fluter.de: Gegen Rammstein-Frotmann Till Lindemann und Keyboarder Christian „Flake“ Lorenz werden Vorwürfe wegen mutmaßlicher sexueller Übergriffe erhoben. Seitdem wird diskutiert, wie verbreitet Frauenfeindlichkeit und sexualisierte Gewalt in der Musikindustrie sind. Wie schätzt du das ein?

Johanna Bauhus: Sicher ist vor allem, dass die Zahlen, Daten und Fakten, die es dazu gibt, wenig aussagekräftig sind. Die Dunkelziffer ist enorm hoch. Was der Fall Rammstein besonders deutlich zeigt, ist, wie wenig von solchen mutmaßlichen Vorfällen oft ans Tageslicht kommt – oder wie lange es braucht. Gerade wenn viel Macht und dann eben auch oft Geld im Spiel ist, wenn viele Menschen und Jobs daran hängen, dann wird das von einem großen System gedeckt. Ich bin sicher, dass so etwas wie jetzt nur die Spitze eines vermutlich sehr großen Eisberges ist. Diese Sachen passieren nicht nur im stillen Kämmerlein, irgendwo in der Subkultur, sondern auf breiter Ebene.

Welche Strukturen in der Musikbranche bedingen Machtmissbrauch?

Das Problem beginnt schon damit, dass die Musikindustrie ein Business ist, das sehr auf Spaß angelegt ist, was viele Menschen anlockt, die bereit sind, für wenig oder gar kein Geld Teil davon zu werden. Das Business funktioniert nur, indem es ganz viele Menschen ausbeutet. Auf der anderen Seite sind sich viele Bands ihrer Verantwortung nicht bewusst. Das fängt schon ganz früh an, sagen wir bei einer kleinen Band, die erste Erfahrungen auf einer Bühne sammelt. Je größer, je bekannter diese Band wird, je länger sie auf Bühnen steht, desto größer wird auch der Einfluss auf die Menschen, die sich das angucken. Und desto größer wird auch die Macht, die sie über diese Menschen hat. Am Anfang ist es völlig normal, Friends und Family mit in den Backstagebereich zu nehmen. Aber der Übergang zum Machtmissbrauch ist fließend, weil das Gefälle wächst und weil es dann eben nicht mehr nur Freunde sind. Deswegen rate ich Bands, von Anfang an darauf zu achten, keine Fans mit in den Backstagebereich zu nehmen. Das ist einfach eine Grenze, die man nicht überschreiten sollte, egal wie gut man es meint.

„Muss eine Frau wissen, dass im Backstagebereich Übergriffe passieren können? Muss sie sich selbst verteidigen können? Ist das ihre Verantwortung?“

Spielt auch eine Rolle, dass es potenziell Betroffenen an Bewusstsein für Grenzüberschreitungen fehlt?

Das ist ein wichtiges Thema. Aber auch ein leidiges, weil man so schnell bei einer Täter-Opfer-Umkehr landet. Was muss eine Frau wissen? Muss sie wissen, dass Übergriffe im Backstagebereich passieren können? Muss sie sich selbst verteidigen können? Ist das ihre Verantwortung? Ich finde, nein. Aber natürlich ist es wichtig, Frauen ein Bewusstsein dafür zu vermitteln, welche Sachen nicht okay sind.

Hast du ein Beispiel?

Auf einem Festival kam letztens eine Frau zu mir und sagte: Ich glaube, ich habe einen Fehler gemacht. Ich bin breit lächelnd auf den Securitymann am Einlass zugelaufen, der hat das als Einladung aufgefasst und angefangen, mit mir zu flirten und mich abzutasten. Sie hat das wirklich geglaubt: dass der Fehler bei ihr liegt, dass sie zu viel gelächelt hat. Das muss man sich mal vorstellen. Ich glaube, was wir als Erstes in den Köpfen verankern müssen, ist, dass die Person, die in dem Machtgefälle weiter unten ist, nie Schuld hat. Wir müssen weg von diesem: So läuft das eben. Nein, tut es nicht!

Es wird in diesem Zusammenhang auch darüber diskutiert, welche Rolle sexistische oder gewaltverherrlichende Songtexte spielen.

Meiner Meinung nach ist es sehr problematisch, welche Verhaltensmuster in Songtexten teilweise reproduziert werden. Ich sage schon seit Jahren, dass viele der Songtexte von Rammstein und andere Veröffentlichungen von Till Lindemann nicht okay sind, weil sie Gewalt normalisieren und auch romantisieren. Verbieten kann man das natürlich nicht, aber man kann dafür sorgen, dass es gesellschaftlicher Konsens wird, das scheiße zu finden. Das gilt fürs Publikum, aber zuallererst für die Akteur:innen der Industrie: Labels, Verlage, Konzertveranstalter:innen, auch andere Künstler:innen, die in den gleichen Line-ups und auf den gleichen Labels auftauchen. Also alle, die in der Prozesskette damit Geld verdienen oder aus dem gleichen Topf finanziert werden. Natürlich gilt die Kunstfreiheit. Aber die Meinungsfreiheit eben genauso. All diese Leute haben die Macht, Nein dazu zu sagen und Ismen abzubauen, anstatt sie zu reproduzieren.

Diese Probleme gibt es ja nicht erst seit gestern. Warum gab es in den vergangenen Jahren kein richtiges #MeToo in der deutschen Musikindustrie?

Bisher gab es nur 2021 eine #MeToo-Debatte im Deutschrap, wo Gewaltandrohung und besonders krasse Beleidigungen ja besonders verbreitet sind. Seit diesem Juni gibt es #MusicMeToo, eine Initiative, die wir [die Awareness-Agentur Safe the Dance – Anm. d. Red.] zusammen mit anderen Akteur:innen gegründet haben, um Gewalt und Machtmissbrauch in der deutschen Musikbranche sichtbar zu machen. Ich glaube, was bisher gefehlt hat, um genug Aufmerksamkeit zu generieren, war ein Zugpferd, ein Negativbeispiel mit genug „Strahlkraft“. Das viel größere Problem ist aber, dass – selbst wenn solche Vorfälle ans Licht kommen – oft nichts Relevantes passiert, wie zuletzt beim Fall Marilyn Manson. Es gibt eine noch unveröffentlichte Studie von Act Aware, die von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gefördert wurde. Da wurden über 5.000 Menschen auf Großveranstaltungen befragt. Die größte Studie, die je in Europa zu dem Thema im Veranstaltungskontext gemacht wurde. Ich habe die Zahlen vorab von meinem Kollegen Daniel Brunsch bekommen.

Und?

Von allen Personen, die zwischen 2016 und 2021 auf Großevents Erfahrungen mit Sexismus gemacht haben, haben sich danach nur zehn Prozent an offizielle Stellen gewandt. Antwort Nummer eins auf die Frage „Warum?“ war die Annahme, keine ausreichenden Beweise zu haben. Und kurz dahinter das Gefühl, dass es eh nichts ändern würde.

Welche Maßnahmen bräuchte es, damit sich wirklich was tut?

Ein wichtiger erster Schritt wäre es, Awareness-Arbeit zu reglementieren und zu einem Ausbildungsberuf zu machen. So, dass man, wenn man eine Veranstaltung plant, auch ein Awareness-Konzept vorlegen muss – genauso wie man die Brandschutzordnung einhalten muss und ein Sicherheitskonzept braucht. Und das Awareness-Team muss genauso viel Macht haben wie etwa die Securitymenschen. Oder sogar mehr. Ich musste bei Festivals schon Security des Platzes verweisen, die ihre Machtposition ausgenutzt hat. Allerdings ist es schwer, Awareness-Konzepte von außen aufzustülpen. Es bringt nichts, sich als Veranstalter einfach ein Team für einen Abend dazuzubuchen. Das muss von innen wachsen.

Hilft es, wenn mehr Frauen in Machtpositionen rücken würden?

Das ist ein wichtiger Punkt: Diversität und Awareness bedingen sich gegenseitig. Je homogener dein Team ist, desto weniger wirst du Barrieren abbauen können. Eine Status-quo-Analyse, um sich der Diskriminierung bewusst zu werden, ist immer der erste Schritt. Du brauchst Frauen oder People of Color, um Sexismus oder Rassismus überhaupt wahrnehmen zu können.

Johanna Bauhus ist Veranstalterin, Musikmanagerin und Expertin für Awareness und Diversity in der Musikindustrie. 2016 gründete sie das feministische Musiklabel Ladies & Ladys. Sie ist Mitgründerin der Inklusionsagentur Safe The Dance, die Workshops für Safer Spaces veranstaltet. (Foto: Rudi Dinkela)

Titelbild: Omer Messinger / Getty Images

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