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„Wir haben die Regierung zerstört“

In den Favelas von Rio de Janeiro regiert der Funk, für arme Menschen ist er schon länger ein Sprachrohr. Frauen wurden dabei bisher kaum gehört. Das ändert sich gerade

Doralcye

Ein Abend in Rio de Janeiro Anfang November. Doralyce trägt einen weißen Body, die Pailletten an ihrer Strumpfhose glitzern im Scheinwerferlicht der Bühne. Die 33-Jährige lässt den Blick über ihr Publikum schweifen.

In den vergangenen sechs Jahren ihres Lebens ist viel passiert. 2017 hatte sie das Schönheitsbild der brasilianischen Gesellschaft angeprangert, hinterlegt mit rauen, tanzbaren Beats. „Miss Beleza Universal“ hieß der Song, er machte sie zum Star eines Musikgenres, in dem Frauen bis vor kurzem nichts zu suchen hatten: brasilianischer Funk.

2018 wählten die Brasilianer*innen einen Präsidenten, der gegen Frauen, Schwarze und Queere hetzte, gegen Menschen wie Doralyce. Brasilianischer Funk wurde dadurch noch wichtiger – als ein Sprachrohr der Marginalisierten. Doch seine Anfänge gehen zurück bis in die 1980er-Jahre, als Funk aus den USA die Favelas von Rio de Janeiro erreichte. Erst mischten die Bewohner*innen Soul und lateinamerikanische Beats in die Musik, dann begannen sich die Texte um das harte Leben in den Favelas zu drehen, um Armut, Drogen und Gewalt. Brasilianischer Funk ist aus einer Spielart des US-amerikanischen Hip-Hops entstanden.

Und wie  im Hip-Hop nennen sich die meisten Künstler*innen MC, Master of Ceremonies. Nach wie vor sind es in der Regel Männer. Frauen stoßen oft auf massive Widerstände. Inzwischen aber mischen immer mehr Frauen die Funk-Szene auf – wie Doralyce. Hinter ihr auf der Bühne beginnt ihre Band, die ersten Noten von „Miss Beleza Universal“ zu spielen. Doralyce hebt ihr Mikrofon zum Mund.

Magra, clara e alta (Dünn, weiß und groß)
Miss beleza universal (Miss Universal Beauty)
É ditadura ia! (Das ist schon Diktatur)
Quanta opressão (Eine solche Unterdrückung)

Langsam geht sie in die Hocke. Dann bewegt sie ihre Hüften zu den schnellen Beats. „Twerken“ heißt der Tanzstil im Hip-Hop, die Variation im brasilianischen Funk wird „Rebolar“ genannt. Die Menschen im Publikum jubeln. Wenige Tage später sagt Doralyce: „Funk ist eine Form von Empowerment der Frau.“

Iasmin Turbininha: Die erste DJ

Ein dunkler Raum, ein Sofa, ein Computer mit riesigem Bildschirm, hüfthohe Lautsprecher und seit neuestem: ein ordentliches Mikrofon. Iasmin Turbininha, 25, empfängt in ihrem Favela-Studio. So nennt sie es. Sie sagt: „Ich hatte nie weibliche Vorbilder.“ Iasmin Turbininha ist die erste weibliche Funk-DJ aus den Favelas.

Sie, die mit bürgerlichem Namen Iasmin Soares do Santos heißt, ist in der Favela Mangueira aufgewachsen. Ihre erste Musik mixte sie mit einem Handymikrofon im Internetcafé. Mehr war nicht drin. Ihr kleines Favela-Studio ist für sie der Inbegriff von Erfolg.

„Funk hat mein Leben verändert“, sagt Iasmin Turbininha. Schon als Kind hatte ihre Mutter sie zu Funk-Partys mitgenommen. Früher konnte sie sich nicht mal einen eigenen Computer leisten, der Tag, an dem ihre Tante ihr das erste Notebook schenkte, sei „der glücklichste Tag“ in ihrem Leben gewesen. Inzwischen wird sie auf der Straße erkannt.

Es habe aber immer wieder Männer gegeben, die ihr klarmachen wollten, dass es im Funk keinen Platz für lesbische dicke Frauen wie sie gebe. Doch sie machte einfach immer weiter. Iasmin Turbininha sagt: „Funk gehört nicht einem Geschlecht, Funk ist für alle da.“

Die Partys, bei denen sie auflegt, heißen Baile Funks. Man kann sie sich wie Straßenfeste vorstellen, mitten in der Stadt oder auf Fußballplätzen. Um die Tanzfläche herum stehen Verkaufsstände mit Getränken und Essen. Von deren Umsatz werden die Auftritte der Künstler*innen bezahlt. Es gibt eine Bühne mit Musikboxen größer als ein Mensch. Brasilianischer Funk muss laut sein, so laut, sagen manche, dass man den Beat mit jeder Faser des Körpers spürt.

Baile Funks sind in Rio de Janeiro gerade weitab von den schicken Bars und Clubs voller Tourist*innen beliebt. Fragt man die Kinder in den Favelas, was sie einmal werden wollen, dann sind die Antworten sehr, sehr oft: Fußballer*in oder Funk-Künstler*in.

Iasmin Turbininha will den Frauen und Mädchen aus den Favelas Mut machen, Funk aufzulegen. Sie will ein Vorbild sein und ihr Wissen und ihre Ressourcen teilen. So drückt sie ihren Feminismus aus. „Der Platz von Frauen im Funk ist, wo immer sie sein wollen.“

Wenn Iasmin Turbininha eins ihrer Sets beginnt, ruft sie: „JETZT GIBT’S NUR NOCH PUTARIA.“ Im Funk sind das sexuell explizite Texte. Iasmin Turbininha sagt: „Die Leute hier lieben das.“ Aber nicht alle: Kritiker*innen behaupten zum einen, die Baile Funks seien gewalttätig und Umschlagplatz von Drogen. Zum anderen seien die Texte frauenfeindlich und die sinnlichen Tanzbewegungen führten zur Sexualisierung und Verwahrlosung der Gesellschaft.

Die Sängerin Doralyce kann bei solchen Argumenten nur müde lächeln. Sie sagt: „Wenn ich Frauen so tanzen sehe, dann freue ich mich, befreite Frauen zu sehen. Tanzen ist politisch. Nicht die tanzenden Frauen machen sich zu Sexobjekten, sondern diejenigen, die die Bewegungen so sexuell interpretieren.“

Renata Prado: Die Tänzerin

Wie tanzen die Menschen zu Funk? Über 400 Kilometer von Rio de Janeiro entfernt ruft Renata Prado durch den Raum: „Lasst das Becken kreisen! Ohne dabei den Rücken zu bewegen!“ Im Hintergrund läuft Funk, während die Schüler*innen vor einem großen Spiegel den perfekten Hüftschwung üben.

Prado gibt regelmäßig Funk-Tanzstunden im Kulturzentrum Casa Preta Hub im Zentrum von São Paulo. Besonders die Twerk-Variante Rebolar ist eine Herausforderung. „Knick in die linke Hüfte, Hüfte nach hinten, Knick in die rechte Hüfte, Becken nach vorne“, leitet Prado ihre Schüler*innen an. Das ist gar nicht so einfach. Nach der Stunde sagt sie: „Viele sind erst mal schüchtern. Funk als Kultur wurde ja immer als vulgär betrachtet.“

Allein dass es solche Kurse wie den von Prado gibt, zeigt, dass Funk – und alles, was kulturell dazugehört – nicht mehr aus der brasilianischen Gesellschaft wegzudenken ist. Trotzdem versuchen Konservative immer wieder, Funk verbieten zu lassen.

In der Geschichte Brasiliens war das schon einmal so, dass Kunst von Schwarzen Menschen herabgesetzt wurde – vor rund 100 Jahren. Da wurde in den Favelas Rio de Janeiros Samba gespielt – die Musik ehemaliger Sklav*innen und ihrer Nachfahr*innen. In den 1930er-Jahren landeten „Sambistas“ reihenweise im Gefängnis. Wie damals gilt noch heute: Kriminalisiert man die Kultur einer Bevölkerungsgruppe, kriminalisiert man indirekt auch immer die Menschen. Doch sehr schnell war Samba nicht mehr wegzudenken aus Brasilien

Ähnlich wie beim Samba erfordert das Funk-Tanzen Muskelkraft in den Oberschenkeln, den Gesäßmuskeln und rund um das Becken. „Viele Frauen lernen nie, ihr Becken zu bewegen“, sagt Prado. Das sei nicht nur fürs Tanzen wichtig, sondern auch Training für ein gutes Sexleben. Natürlich sei es problematisch, wenn Frauen in einer unterordnenden Rolle dargestellt würden, sagt sie. „Es ist anders, wenn die Frau selbst darüber bestimmt, wo und wie und in welcher Position sie ihren Körper bewegt.“

Doralyce: Die Sängerin

Doralyce hat ihren Nachnamen abgelegt. Nicht einmal mehr auf ihrem Führerschein steht er. Er sei „Teil des Patriarchats“, sagt sie ein paar Tage nach dem Konzert beim Interview in ihrer Wohnung.

Geboren wurde Doralyce in Pernambuco, einem eher armen Bundesstaat im Nordosten Brasiliens. Als sie nach Rio kam, faszinierten sie die Stadt und, besonders, Funk. „Frauen und Marginalisierte erkämpfen sich darin einen Platz, gleichzeitig ist die Musik ein Werkzeug im Kampf gegen das Patriarchat“, sagt sie. Deshalb sei es nur logisch gewesen, ein so feministisches Lied wie „Miss Beleza Universal“ auf Funk-Beats zu texten.

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Die brasilianische Funksängerin Doralyce
Doralyce hat ihren Nachnamen abgelegt – denn für sie ist er ein „Teil des Patriarchats“

Doralyce erzählt, wie die Regierung Bolsonaros die Mittel für Musik von schwarzen oder armen Menschen extrem kürzte. Als eine seiner ersten Amtshandlungen löste Bolsonaro Anfang 2019 sogar das Kulturministerium auf. „Stattdessen gab es Geld für Gospel“, sagt Doralyce. Schon vor zwei Jahren hat sie Bolsonaro einen Song gewidmet: „Vamos derrubar o governo“ heißt er. Auf Deutsch: „Wir werden die Regierung zerstören“. Darin prangert sie auch die Polizei an, die so viele unschuldige Menschen bei ihren Einsätzen töte. Der Song ist auch ein Aufruf zum Widerstand.

Zur Freude von Doralyce, aber auch von Iasmin Turbininha und Renata Prado ist die Präsidentschaft von Bolsonaro vorbei. Ende Oktober unterlag er in der Stichwahl seinem sozialdemokratischen Herausforderer „Lula“ da Silva. Seit Beginn des Jahres regiert er nun in Brasilien.

„Wir werden die Regierung zerstören.“ Bei dem Konzert Anfang November spielte Doralyce auch diesen Song, allerdings mit einem abgeänderten Ende. Sie sang: „Wir haben die Regierung zerstört.“

Fotos: Ian Cheibub

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.