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„Wir sind der Islam“

In Marseille hat Ludovic-Mohamed Zahed eine Moschee gegründet, die sich ausdrücklich an queere Menschen richtet

Ludovic Mohamed Zahed

Wie ein neugieriger Junge steckt der alte Mann mit der schmalen silbernen Pilotenbrille den Kopf aus dem Fenster. In der engen Gasse des einstigen Marseiller Arbeiterviertels Belle de Mai hängt Wäsche von über die Straße gespannten Leinen, zwei Jugendliche lungern auf einem Motorroller rum. „Sie sind die Journalistin!“, ruft er fröhlich herunter. Nichts an seiner Stimme lässt erkennen, dass hinter dem Blick aus dem Fenster eine über die Jahre angewöhnte Vorsicht steckt.

Nur Eingeweihte kennen die Adresse dieses Hauses. Das hat einen Grund.

Ludovic-Mohamed Zahed lebt als offen homosexueller Imam in Frankreich. Lange schon wird hier hitzig über seine Religion debattiert, erst recht nach den islamistisch motivierten Terroranschlägen auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ und das Rockkonzert im Bataclan im Jahr 2015. Schon in seiner ersten Amtszeit kündigte Präsident Emmanuel Macron an,  einen „französischen Islam“ schaffen zu wollen und die aus der Türkei, Algerien und Marokko entsandten Imame durch vom französischen Staat zertifizierte zu ersetzen.

Ein Safe Space mitten im Schussfeld

Bei Muslimen weltweit löste das Empörung aus. „Nicht durchführbar“, winkte Chems-Eddine Hafiz, der Rektor der Großen Moschee von Paris, in der Zeitung „Le Monde“ ab, „rassistisch“, urteilte die al-Azhar, die höchste religiöse Autorität des sunnitischen Islam, in der libanesischen Zeitung „L’Orient-Le Jour“.

Zwischen diesen rot gezogenen Frontlinien hat Zahed in Marseille einen Ort aufgebaut, der Moschee, Schutzort für die queere muslimische Community und Ausbildungsplatz für junge Imame zugleich sein soll.

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Ludovic Mohamed Zahed
In Frankreich angekommen, hat Zahed dem Islam erstmal abgeschworen

Zahed öffnet im dunkelblauen bestickten Hemd mit Stehkragen die Tür zum Institut Calem. „Schuhe bitte ausziehen“, sagt er. Durch einen weiß gekachelten engen Flur führt er auf eine kleine, mit Kunstrasen ausgelegte Terrasse. Hier finden die Ausbildungsseminare und Feiern statt, die Zahed mit fünf Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen organisiert.

Eine mit Decken verhängte Tür führt von hier aus zum Schlafsaal, in dem sie queere Geflüchtete aus der ganzen Welt aufnehmen. Sie nutzen den Raum auch als Betraum. Gegenüber geht es in ein kleines Büro. Im Bücherregal stehen Standardwerke der islamischen Theologie, Soziologie, Anthropologie und Zaheds autobiografischer Essay „Le coran et la chair“, auf Deutsch etwa „Der Koran und das Geschlecht“.

Verliebt in einen Glaubensbruder

Darin beschreibt er seine Jugend in den 1990er-Jahren in Algier. Wie sein älterer Bruder ihn verprügelt, um „einen Mann“ aus ihm zu machen, wie er in der strengen Glaubenspraxis der Salafisten eine neue Familie findet und eine tiefe Freundschaft zu einem neun Jahre älteren Glaubensbruder schließt. Doch je inniger ihre Beziehung wird, desto größer der Druck der Salafistengruppe. Sie mahnen die beiden unverheirateten Männer, nicht zu viel Zeit miteinander zu verbringen. Für Zahed und seinen Freund ist schon die Unterstellung gefährlich, ihre Beziehung könne sexueller Natur sein. Schwule und lesbische Menschen sind in Algerien immer wieder Opfer von Angriffen durch muslimische Fundamentalisten. Zahed wird den Freund später seine erste Liebe nennen, doch der Freund gibt nach. Sie dürften sich nicht mehr sehen, ihre Verbindung sei eine sündhafte Versuchung.

Wenig später explodiert mitten in Algiers Zentrum ein Lastwagen voller Sprengstoff. Es ist die gespenstische Stille über der Innenstadt, an die sich Zahed im Buch erinnert. Liebeskummergeplagt, erfüllt ihn die Idee mit Entsetzen, dass es zwischen seiner Glaubensgemeinschaft und den Attentätern Verbindungen gibt. Als sein Vater beim Abendessen verkündet, die Familie müsse wegen des Bürgerkriegs so schnell wie möglich nach Marseille fliehen, ist der 17-jährige Zahed sofort einverstanden. In Frankreich schwört er dem Islam ab.

Die Ruhe, die Zahed heute ausstrahlt, scheint nur schwer mit diesem Ritt durch geografische und spirituelle Welten zu vereinbaren. Wie ist dieser Mann, dem, nach eigener Wahrnehmung, seine erste große Liebe und seine Wahlfamilie von der Religion genommen wurde, zum Imam geworden? 

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Hof
Das Institut finanziert sich ohne staatliche Hilfen…

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Bett
… sondern durch Spenden, Publikationen oder auch mal Schlafplatzvermietung

Ludovic-Mohamed Zahed faltet die Hände, lächelt. „Die einzige Vorstellung, die ich damals vom Islam hatte, war eine politische: antisemitisch, patriarchal, homophob, transphob“, sagt er. 

Die Leere, die der verlorene Glaube hinterlassen hat, füllt er mit Wissen, studiert Psychologie, später Anthropologie. Er versucht, Gott im Rausch von Alkohol und Sex zu vergessen. Es sei gewesen, „als versuche man, sich einen Arm abzuschneiden“, schreibt er in seinem Buch.

Es erscheint ihm weniger schmerzhaft, den Glauben trotz der Unvereinbarkeit mit seiner sexuellen Identität wieder in sein Leben zu lassen. Also wendet er sich ganz der friedlichsten Religion zu, die ihm einfällt – dem Buddhismus. Mit seiner Schwester reist er sogar nach Tibet.

Doch dann hört er den Dalai-Lama auf einer Pressekonferenz sagen: Liebe zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern sei für Atheisten zwar akzeptabel, nicht jedoch für Buddhisten.

Für Zahed ist diese Enttäuschung kein Moment der Bitterkeit. Die Schlüsse, die er daraus zieht, sind wie eine Erlösung.

Muslimischer Glauben und Homosexualität: Geht das zusammen?

Ihn faszinierte dieses wiederkehrende Muster in den Religionen. Wenn Homophobie und Frauenfeindlichkeit überall sind, dann hängen sie vielleicht nicht zwingend mit dem Islam zusammen, denkt er. Vielleicht ist sein muslimischer Glaube dann doch mit seiner Homosexualität vereinbar? Zahed sieht zum ersten Mal einen Ausweg aus seiner „schizophrenen Identität“. So nennt er die inneren Widersprüche, die ihn jahrzehntelang zerrissen.

An der Pariser École des Hautes Études en Sciences Sociales schreibt Zahed über die Vereinbarkeit dieser Widersprüche eine Doktorarbeit. Er liest arabische Feministinnen wie die Marokkanerin Fatima Mernissi. Als niemand den traditionellen Ritus und die Gebete für eine verstorbene transsexuelle Muslimin anleiten will, so erzählt er, springt er zum ersten Mal als Imam ein. Im Jahr 2012 eröffnet er in Paris eine der ersten inklusiven Moscheen weltweit.

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Büro
In Zaheds Büro stehen nicht nur mehrere Ausgaben des Korans, sondern auch Bücher von arabischen Feministinnen

Wenn er heute von diesen Jahren erzählt, tut er dies mit einer Leichtigkeit, als sei alles ganz selbstverständlich gewesen. Dabei gibt die Pariser Grande Mosquée das Statement ab: „Die Eröffnung eines Gebetsraums dieser Art liegt außerhalb der islamischen Gemeinschaft.“

Zahed bekommt viele Hassnachrichten…

Erst wenn man nachfragt, erzählt Zahed von den Hassnachrichten, die er seitdem bekommt. Die homophoben Tendenzen im Islam will er nicht verleugnen. Das betont er immer wieder. „Die Wurzeln liegen anderswo als in der Religion selbst. Solange wir diese nicht bekämpfen, kommen sie in anderer Form wieder zurück.“   

 

Zahed schaut auf Hassnachrichten, als wäre er ein Laborwissenschaftler und sie ein spannendes Forschungsobjekt, das auf seine Analyse nur wartet. Fünf Reisen nach Mekka, die Gedankenarbeit unzähliger veröffentlichter Studien in Fachzeitschriften und einer zweiten Doktorarbeit geben ihm das nötige Selbstvertrauen, selbst den mächtigsten Imamen Widerspruch zu leisten.

… aber auch Einladungen ins Fernsehen

 

Kraft ziehe er auch daraus, wie sich der Islam über die letzten Jahre verändert habe. „Als ich die Moschee in Paris eröffnete, sagten uns Gläubige: Ihr seid keine echten Muslime.“ Wenn der TV-Sender Deutsche Welle Arabia heute eine Diskussionsrunde zu religiösen Fragen zwischen ihm und anderen muslimischen Gelehrten anfragt, stimmen diese dem Gespräch zu. Sie akzeptieren ihn als Religionsvertreter. Zahed glaubt, sie hätten verstanden, dass sie sich anpassen müssen, wenn sie nicht verschwinden wollen – zumindest in Europa.

Zu den Ideen der französischen Politik, in diesen Konflikt einzugreifen, verweist Zahed auf den in Frankreich geltenden Laizismus die Trennung von Staat und Religion. Es sei nicht Macron, der über den Islam bestimmen könne.

Sein Institut finanziere sich ohne staatliche Hilfen über private Spendengelder, sagt Zahed, gelegentlich vermieteten sie auch freie Schlafsaalbetten. Wenn sie theologische Fachartikel veröffentlichten, bringe das auch Geld.

„Wir dürfen wir uns unseren Glauben nicht wegnehmen lassen“ 

Damit möglichst viele junge Muslime und Queers seine Vorstellung vom Islam kennenlernen, organisiert Zahed jedes Jahr mit LGBTQ-Vereinen die Marseiller Pride. Er will seine selbstbestimmte Gelassenheit weitergeben, sie ist sein Werkzeug, all die Ablehnung, all den Hass zu zerlegen – von innen und außen.

In dem kleinen Büro hängt ein Poster an der Wand: „You are safe here“, steht in zwölf Sprachen darauf.  Einen Teil dieses Schutzes macht eine spirituelle Sicherheit aus. Zwei Jahre lang dauert eine Ausbildung zum Imam im Institut Calem. Seine Schüler und Schülerinnen aus Europa, Südamerika, Afrika wenden sich an Zahed, weil sie sich fragen: „Wie verbinde ich meine Religion mit meiner Identität?“ In der Ausbildung, sagt er, wolle er den zehn Studierenden die Ausrüstung geben, selbst zu entscheiden, welche Beziehung sie mit ihrer Religion und Spiritualität aufbauen. 

Viele der queeren Geflüchteten wiederum kämen bei ihm im „Überlebensmodus“ an, sagt er – weit entfernt davon, stundenlang über Glaubensfragen diskutieren zu wollen.

Wir sind schon fast am Hinausgehen, da erzählt Zahed noch von einer Diskussion mit einer Geflüchteten. Verstoßen von Familie und Umfeld, lehnte sie alles ab, was mit dem Islam zu tun hatte. „Sie ernährte sich von Schweinefleisch und Bier“, sagt Zahed und lacht. „Zu mir sagte sie: Wie kannst du nur für den Islam kämpfen, der uns so terrorisiert hat?“

Plötzlich wird er ernst. „Ich verstehe sie natürlich“, sagt er. „Aber was ist schon der Islam? Wir sind der Islam! Wir dürfen wir uns unseren Glauben nicht wegnehmen lassen.“ 

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.