Hunderte Menschen, die vor einem AKW demonstrieren, Plakate in die Höhe halten, Parolen rufen und sich von der Polizei nicht einschüchtern lassen. Diese Bilder kennt man auch aus Deutschland, wo die Antiatomkraftbewegung über gesellschaftliche Grenzen hinaus großen Zulauf hat. Doch die Menschen, die im Herbst 2015 im elsässischen Fessenheim auf die Straße gingen, waren nicht gegen Atomkraft, sondern dafür. Sie demonstrierten gegen die Pläne zur Abschaltung des ältesten AKW in Frankreich, das seit Ende 1977 in Betrieb ist, also bald 40 Jahre. Was für einen Reaktor fast schon ein biblisches Alter ist.
Die Kraftwerke wurden als „Schlösser der Neuzeit“ bewundert
Entsprechend besorgt sind viele Menschen, die in der unmittelbaren Umgebung des Meilers leben – und das sind nicht nur Franzosen, sondern auch Deutsche und Schweizer. Das AKW Fessenheim liegt nicht weit von Basel, Straßburg und Freiburg entfernt im Dreiländereck. Im Falle einer Katastrophe wie in Fukushima wären in einem Umkreis von 40 Kilometern rund zweieinhalb Millionen Menschen betroffen.
Und diese Katastrophe ist wahrscheinlicher als bei vielen anderen AKW. Tatsächlich liegt Fessenheim in einer Region, in der einst das stärkste historisch belegte Erdbeben in Mitteleuropa stattfand und es immer wieder kleinere Beben gibt. Zudem, so warnte die EU, liege der Reaktor unter dem Niveau des Rheins, weswegen der Fluss im Falle von Überschwemmungen radioaktiv verseucht werden könnte.
Dass selbst ein so umstrittenes Kernkraftwerk wie Fessenheim immer noch Strom produziert, sagt viel aus über die Beziehung der Franzosen zur Atomkraft. Anders als in Deutschland hat es nie eine große Gegenbewegung gegeben, nie den lauten Ruf nach Windrädern oder anderen regenerativen Energiequellen. 70 Prozent der Franzosen sind immer noch gegen einen Ausstieg, den das Land ohne eine fundamentale Energiewende auch nur schwer vollziehen könnte: 78 Prozent des Stroms kommen aus nuklearen Quellen, das ist weltweit der erste Platz – ebenso die Anzahl von 58 AKW, die über das Land verteilt sind. „Die Atomkraft ist das letzte Relikt der Weltmacht, die Frankreich einst war“, sagt der französische Atomkraftgegner Pierre Rosenzweig von der Bürgerinitiative „Stop Fessenheim“.
Einige Architekten lieferten sich geradezu einen Wettbewerb um die schönste Meilerkuppel
Tatsächlich sahen sich die Franzosen nach dem Zweiten Weltkrieg und den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki dazu berufen, der Welt zu beweisen, dass die Atomkraft auch zum Segen der Menschheit wirken kann. Es galt, wie es Raoul Dautry, der erste Leiter der nationalen Atomenergiebehörde, ausdrückte, „die schrecklichen Kräfte der unbegrenzten Zerstörung zu meistern“ und „diese unglaubliche Erfindung durch den Filter unseres nationalen Genies in eine humane Entdeckung zu verwandeln“.
Dieser Aufgabe widmete man sich in den nachfolgenden Jahrzehnten gründlich. Unter der Leitung von Unternehmen, an denen mehrheitlich der Staat beteiligt war, wurde Kraftwerk um Kraftwerk gebaut. Einige Architekten lieferten sich geradezu einen Wettbewerb um die schönste Meilerkuppel. In der Presse wurden die AKW gar als „Schlösser“ der Neuzeit und ihre Kühltürme als „Kathedralen“ gefeiert.
Das Beschwören nationaler Größe strahlte auch auf die Bevölkerung ab
Das Beschwören nationaler Größe strahlte auch auf die Bevölkerung ab – zumal die AKW-Gemeinden üppigste Zuwendungen bekamen und der Atomstrom bis heute so billig ist, dass sogar damit geheizt wird. Was auch daran liegt, dass der Rückbau der AKW und die Endlagerung nie solide mit eingepreist wurden und auf den Steuerzahler in Zukunft enorme Kosten zukommen.
Wie schwer in Frankreich auch heute noch ein Umdenken fällt, zeigt der Streit im Anschluss an das Energiewendegesetz von 2015, das eigentlich die Ablösung der Atomkraft durch Solar- und Windkraftanlagen einläuten sollte. Stattdessen streiten sich seitdem Umweltministerin Ségolène Royal und das Unternehmen Électricité de France (EDF), an dem pikanterweise zu 80 Prozent der Staat beteiligt ist. So hat EDF zwar einer Entschädigung von 490 Millionen Euro zugestimmt, beharrt aber weiter da rauf, das AKW Fessenheim nur zu schließen, wenn es im Gegenzug eine Bauzeitverlängerung für seinen neuen Vorzeigereaktor Flamanville in der Normandie bekommt, dessen Errichtung von vielen Pannen begleitet ist. Nach neuestem Stand soll Fessenheim nun im nächsten Jahr vom Netz gehen, EDF konzentriert sich derweil auf sein Geschäft mit China. Dort hat man gerade begonnen, sein Herz für die Atomkraft zu entdecken.
Fotos: Andrea Pugiotto