Verschlafen, Bus verpasst, viel zu spät dran für die Redaktionskonferenz. Es wirkt, als ginge dieser 7. Januar 2015 nicht gut los für Catherine Meurisse. Und bei aller Tragik muss man sagen: Dass sie, die sonst nie verschläft, an diesem Tag aber schon, weil sie Liebeskummer quält, eben einmal nicht rechtzeitig aus dem Bett kommt, das ist schon ein verdammtes Glück.
Wobei – Glück. Was für ein blödes Wort in dieser todtraurigen Geschichte. Als Meurisse in der Pariser Rue Nicolas-Appert eintrifft, steht ihr Zeichner-Kollege Luz verwirrt auf der Straße rum. In der Hand ein Kuchen. Er hatte verschlafen, weil er am Abend zuvor Geburtstag gefeiert hat. Sie solle nicht ins Büro reingehen, warnt er. Während ihr nämlich der 69er-Bus vor der Nase wegfuhr, drangen die Brüder Kouachi in die Redaktionsräume der Satirezeitschrift Charlie Hebdo ein, bewaffnet mit Kalaschnikows, und nahmen ihre Kollegen als Geisel.
TAK TAK TAK TAK TAK – mehr als diese Buchstaben-Salven sieht man in „Die Leichtigkeit“ nicht von dem Anschlag, bei dem zehn Menschen starben, elf schwer verletzt wurden, und der Frankreich bis heute nicht loslässt. Es folgten die Attentate im November 2015 und in Nizza im Juli 2016. Die Angst vor dem Terror polarisiert die Gesellschaft und überschattet den aktuellen Wahlkampf. Im April und Mai wählen die Franzosen ein neues Staatsoberhaupt, dabei macht sich die extreme Rechte mit ihren schrillen Parolen Hoffnungen auf einen Sieg.
Die Gewalt, der Verlust, aber auch der ständige Polizeischutz, unter dem sie fortan steht – damit muss sie erstmal klarkommen.
Laute Töne, die gibt es nicht in „Die Leichtigkeit“. Hier erzählt Catherine Meurisse ganz persönlich und mit feinem Humor, wie schwer sie sich tat, das Erlebte zu verarbeiten und findet dafür eindrucksvolle Bilder. In großen Aquarellen stapft sie als kleine Figur aus wenigen Strichen bestehend durch verlassene Straßen, menschenleere Museen und über windumtoste Dünen – in der Hoffnung, wieder festen Grund unter den Füßen zu finden. Aber das ist gar nicht so einfach.
Die Gewalt, der Verlust, aber auch der ständige Polizeischutz, unter dem sie fortan steht – damit muss sie erstmal klarkommen. Anfangs hält sie noch eine imaginäre Redaktionskonferenz ab, bald aber verlässt sie die Zeitschrift und will keine politischen Karikaturen mehr zeichnen. Dann erleidet sie einen traumatischen Schock, wie ihr ein Therapeut erklärt. Dabei fluten Adrenalin und Cortisol das Gehirn, das sich als Notwehrreaktion emotional und sensorisch entkoppelt. Was bleibt, ist ein betäubtes Gefühl der Leere.
In Frankreich war „Die Leichtigkeit“ ein großer Erfolg. Vielleicht, weil die Frage, die Meurisse umtreibt, ja letztlich allen Franzosen im Kopf herumschwirrt: Wie weiterleben nach so viel Gewalt, Hass und Zerstörung?
Meurisse jedenfalls macht sich auf die Suche nach der verlorenen Schönheit. Sie führt sie nach Balbec, wo ihr Lieblingsschriftsteller Marcel Proust zu urlauben pflegte, ins Theater, wo sie sich Trost in einem Stück über einen weltentrückten russischen Aristokraten erhofft und in die Landschaften ihrer Kindheit, die sie durchwandert – doch nirgends will das taube Gefühl vergehen.
Schließlich fährt sie nach Rom, als letzte Station ihrer kunsttherapeutischen Reise. Erlösung erhofft sie sich vom Stendhal-Syndrom. Den französischen Schriftsteller überkam ein Schwindel ob der Schönheit der vielen Kunstwerke der Ewigen Stadt. Vielleicht kann diese kulturelle Reizüberflutung ja die Erlebnisse vom 7.1.2015 überschreiben.
Nach dem Tsunami der Gewalt kommt der Tsunami der Solidarität
In seinen schlechteren Momenten ist „Die Leichtigkeit“ ein bisschen beflissen und bildungshuberisch. Etwa wenn Meurisse ins Namedropping abgleitet – Baudelaire, Dostojewski, Camus... – oder in jeder antiken Statue, in jedem Bild der alten Meister ihre eigene Geschichte zu entdecken glaubt. Aber schlechte Momente gibt es nur wenige in der Graphic Novel, berührende dafür viele. Da sind die inneren Zwiegespräche mit den toten Kollegen, das Unbehagen über den Tsunami der Solidarität, der auf den Tsunami der Gewalt folgt und die schelmische Freude an ihrer Guerilla-Aktion: Bei einem Graffiti der ermordeten Zeichner gegenüber der ehemaligen Redaktion sprüht sie den vergessenen Kollegen Honoré einfach bei Nacht und Nebel dazu.
Das Schönste an diesem Buch: Catherine Meurisse verliert vielleicht kurz ihren Verstand, aber nie ihren Humor. In einem Jahr, in dem man wohl oft starke Nerven brauchen wird, kann man sich so eine Haltung nur zum Vorbild nehmen.
Catherine Meurisse: „Die Leichtigkeit“, Carlsen Verlag, 144 Seiten, 19,99 Euro