Knapp die Hälfte der jungen Französinnen und Franzosen ging im April nicht zur Präsidentschaftswahl. Studierende besetzten die Universität Sorbonne, weil sie sich von keinem der zur Stichwahl stehenden Kandidierenden vertreten fühlten. Und große Zeitungen wie „Le Monde“ sprechen längst von einer „Demokratie in der Krise“.
Im Zentrum der Kritik steht dabei immer wieder das französische Mehrheitswahlsystem: Hat im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl niemand der Kandidierenden über 50 Prozent der Stimmen erreicht, gibt es zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden Kandidierenden mit den meisten Stimmen. Auch die aktuell laufenden Parlamentswahlen funktionieren nach dem Mehrheitswahlsystem – genauer nach dem romanischen Mehrheitswahlsystem: In jedem der 577 Wahlkreise muss ein Kandidat oder eine Kandidatin mindestens die Hälfte der gültigen Stimmen erreichen – unter der Voraussetzung, dass das mindestens einem Viertel der eingeschriebenen Wähler und Wählerinnen entspricht. Erreicht niemand so viele Stimmen, gibt es eine zweite Runde zwischen den Kandidierenden, für die zumindest jeder Sechste im Wahlverzeichnis Eingeschriebene stimmte. Aber was ist daran so problematisch? Und was wäre überhaupt eine bessere Alternative?
Einer, der sich damit in den letzten Jahren viel beschäftigt hat, ist der Wissenschaftler Pierre-Louis Guhur. Er ist Mitgründer einer Organisation, die sich „Mieux Voter“ nennt – „Besser wählen“.
Das heutige System geht zurück auf le Général: Charles de Gaulle
Um die Krise des französischen Wahlsystems besser zu verstehen, sagt Pierre-Louis Guhur, lohne sich ein Blick zurück. Bei der Präsidentschaftswahl im Frühjahr 2002, im Jahr des Elbhochwassers und der Euro-Bargeld-Einführung, galten als aussichtsreichste Kandidaten drei weißhaarige, krawattentragende Männer: der gemäßigt rechte Jacques Chirac, der rechtsextreme Jean-Marie Le Pen und, in Umfragen Kopf an Kopf mit Chirac, der sozialistische Politiker Lionel Jospin. Als ein Journalist Jospin damals fragte, ob er es für möglich halte, schon im ersten Wahlgang auszuscheiden und nicht in die Stichwahl zwischen den zwei stärksten Kandidaten zu kommen, legte er den Kopf in den Nacken und lachte herzhaft.
Am Wahlabend aber verkündeten die Fernsehsprecherinnen und -sprecher dann: Chirac und Le Pen ziehen in die Stichwahl. Für viele Französinnen und Franzosen ein Schock. Jospin hatten die Stimmen derjenigen Linken gefehlt, die sich für einen der beiden anderen linken Kandidierenden entschieden hatten – mit ihnen hätte er laut Umfragen vorne gelegen, die Stichwahl wahrscheinlich gewonnen.
„Ein Wahlunfall“, sagt Pierre-Louis Guhur.
Das heutige französische System geht zurück auf le Général, Charles de Gaulle. 1962 ließ der damalige Staatspräsident im Zuge einer Verfassungsreform in einem Referendum über die Direktwahl abstimmen. De Gaulle erhoffte sich, so einen Präsidenten zu ermitteln, der über den Machtspielen der Parteien steht, weil er nicht durch das Parlament gewählt wird. Außerdem, so die Idee, soll dieses Wahlverfahren sicherstellen, dass eine Mehrheit der Französinnen und Franzosen hinter „ihrem“ Präsidenten steht.
Doch wenn man sieht, dass Emmanuel Macron bei seiner Wiederwahl im ersten Wahlgang gerade einmal knapp 28 Prozent der Stimmen erhalten hat und die Stichwahl nur gewann, weil viele linke Wählerinnen und Wähler strategisch wählten, als barrage, als Staudamm gegen die rechtsextreme Le Pen, scheint das kaum aufzugehen. Pierre-Louis Guhur nennt die Mehrheit, die Macron in der Stichwahl bekam, einen „falschen Konsens“.
Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler teilen diese Meinung. Etwa der Forschungsdirektor des renommierten Pariser Instituts CNRS, Rida Laraki, und der US-amerikanische Mathematiker Michel Balinski, die schon 2002 – während der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen – begannen, an genau der neuen Wahlmethode zu arbeiten, die Guhur und die Organisation „Mieux Voter“ heute bekannter machen wollen.
Inspirieren ließen sie sich von dem britischen Universalgelehrten Francis Galton – der zugleich auch als einer der Väter der von den Nationalsozialisten zur Legitimierung der Ermordung von Menschen mit Behinderung übernommenen Erbgesundheitslehre gilt. Galton beobachtete 1906 auf einer Landwirtschaftsmesse einen Wettbewerb: Die Teilnehmenden sollten das Gewicht eines geschlachteten Ochsen schätzen. Galton analysierte die abgegebenen Zettel und entdeckte dabei, dass die durchschnittliche Schätzung aller Teilnehmenden dem tatsächlichen Gewicht des Ochsen bemerkenswert nahekam. Er schloss daraus, dass eine „Weisheit der Masse“ existiere.
Wähler und Wählerinnen vergeben Schulnoten an die Kandidierenden
Nachdem Guhurs Mitstreiter Rida Laraki und Michel Balinski fast zehn Jahre lang solche Theorien gewälzt und durchgerechnet hatten, veröffentlichten sie 2011 ein Buch mit dem Titel „Majority Judgement“, auf Deutsch: Bewertungswahl. Nach dieser Methode geben die Wählerinnen und Wähler allen Kandidierenden eine Schulnote. Ähnlich wie der Durchschnitt der Schätzungen der Gruppe das Gewicht des Ochsen fast trifft, soll die Benotung aller Wählerinnen und Wähler den für die Gesellschaft besten Kandidaten ermitteln.
Besonders wichtig findet Pierre-Louis Guhur dabei, das sonst bestehende Konkurrenzverhältnis zwischen eigentlich politisch ähnlich orientierten Kandidierenden auszuhebeln. „Bisher müssen sich diese Kandidaten vor allem durch ihre Unterschiede definieren.“
Guhur und seine Organisation haben diese Bewertungswahl schon in verschiedenen Kontexten getestet. So können die Pariserinnen und Pariser seit einem Jahr Bürgervorschläge für Investitionen mit Noten bewerten und entscheiden, ob in einen Skatepark oder in Luftsensoren in Schulen investiert wird. Und bei der Vorwahl der Linken zur Präsidentschaftswahl 2022 konnten Parteimitglieder ebenfalls Schulnoten vergeben. Jean-Luc Mélenchon, der als Kandidat der linken Partei France Insoumise den dritten Platz im ersten Wahldurchgang belegt hat, kam da nur mit einem „assez bien“, befriedigend, davon.
Erste Umfrageergebnisse zeigen: Mehr Menschen würden dann zur Wahl gehen
In einem Forschungsprojekt untersuchten Guhur und weitere Politikwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler außerdem, wie sich die Bewertungswahl auf das Wahlverhalten auswirkt. Sie ließen Studienteilnehmende in einer fiktiven Bewertungswahl über die Kandidierenden der Präsidentschaftswahl 2022 abstimmen und verglichen das mit ihrer Stimmabgabe im aktuellen französischen Wahlsystem.
Die ersten Umfrageergebnisse stimmen Guhur euphorisch: 83 Prozent der Befragten gaben an, dass sie zur Wahl gehen würden, wenn im zweiten Wahlgang die Bewertungswahl eingeführt würde – gegenüber 72 Prozent tatsächlicher Wahlbeteiligung. Außerdem hätten deutlich weniger Menschen strategisch gewählt, also anderen statt ihren favorisierten Kandidierenden die Stimme gegeben.
Zeit für einen unabhängigen Blick von außen: Anruf beim Politikwissenschaftler Eric Linhart, der an der TU Chemnitz zu politischen Systemen forscht.
An der Bewertungswahl, wie „Mieux Voter“ sie vorschlägt, sagt Linhart, sehe er durchaus positive Seiten: „Mehr Wähler haben letztlich einen nennenswerten Einfluss auf das Wahlergebnis.“ Das sei im französischen Wahlsystem oft anders, erklärt er und zieht auch wieder die Wahl von Chirac 2002 heran: Chirac und Le Pen zogen mit gemeinsam gerade einmal einem Drittel der Stimmen in die Stichwahl. „Vermutlich hätte eine Einbeziehung der restlichen Stimmen, immerhin knapp zwei Drittel, etwas verändert“, sagt Linhart.
Dann rechnet er am Telefon Wahlkonstellationen vor, Wahloption A, B, C, es wird sehr mathematisch, doch entscheidend ist: „Auch die Bewertungswahl verletzt in manchen Situationen Wahlsystemkriterien.“ In einem von Linharts Szenarien zum Beispiel hat einer der beiden Kandidierenden die absolute Mehrheit der Stimmen – und kommt in der Bewertungswahl doch nicht mit der besten Schulnote weg. Das verletze das sogenannte Majoritätskriterium, das besagt: Wer die absolute Mehrheit der Stimmen hat, muss Wahlsieger beziehungsweise Wahlsiegerin sein. „Am Ende gibt es für jedes Verfahren Konstellationen, in denen die etablierten Wahlsystemkriterien nicht eingehalten werden“, sagt Linhart.
Ein ideales Wahlverfahren gibt es nicht – aber schon die Diskussion darüber kann helfen
Wenn es das perfekte Wahlsystem nicht gibt – warum ist Linhart dann trotzdem so überzeugt davon, dass Diskussionen über Wahlverfahren ihre Wichtigkeit haben?
„Die Frage, wie wir wählen, beeinflusst, wer gewählt wird. Sie berührt daher den Kern von Demokratien“, sagt Linhart. Mit Blick auf das französische Problem der vielen jungen Menschen, die nicht abstimmten, sagt Linhart: „Auch darauf können Wahlsysteme Einfluss haben.“
Bleibt die Frage: Ist es überhaupt realistisch, dass das System der Bewertungswahl einmal bei tatsächlichen Wahlen zum Zuge kommt?
Das „Mieux Voter“-Team ist sich uneins: Rida Laraki sagte im Interview mit der Zeitung „Les Echos“, er möge daran glauben, „vielleicht in 20 oder 30 Jahren“. Pierre-Louis Guhur wiederum geht es erst einmal darum, diese Form des Wählens überhaupt bekannt zu machen. „Wir wollen die Menschen daran erinnern, dass es mehr Optionen gibt“, sagt er. Nicht nur die zwischen der Mehrheitswahl in zwei Runden und der Wahlenthaltung, mit der viele junge Französinnen und Franzosen ihren Missmut ausdrücken – und deren Ergebnis sich in den Parlamentswahlen oft gar nicht widerspiegelt: Die Partei des frisch gewählten Präsidenten Macron droht dort keine Mehrheit zu erreichen. Dafür hat seine Organisation eine Plattform entwickelt, in der für jedes beliebige Thema eine Wahl erstellt und abgestimmt werden kann – die Klassensprecherwahl in der Schule oder die Filmwahl für den Abend mit Freundinnen und Freunden.
Titelbild: REA/laif