Seit dem 1. März ist in Polen das umstrittene „Holocaust-Gesetz“ in Kraft. Öffentliche Äußerungen, die dem polnischen Staat oder dem polnischen Volk eine Mitverantwortung für vom „Dritten Reich“ begangene Nazi-Verbrechen zuschreiben, sollen zukünftig mit Geld- oder Haftstrafen von bis zu drei Jahren geahndet werden. Ein Ziel des Gesetzes ist es, den Gebrauch der Phrase „polnische Vernichtungslager“ in den Medien und der Öffentlichkeit zu verbieten. Mitglieder der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) meinen, dass ansonsten die Verantwortung des deutschen Staates am Holocaust aufgeweicht werden könnte.  

Polens Ministerpräsident verschärft den Konflikt

Im Ausland stößt das Gesetz auf scharfe Kritik. Es bestünde die Gefahr, dass in Polen eine kritische Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr möglich sei. Besonders in Israel befürchtet man, dass das Gesetz vor allem dazu diene, die Rolle Polens während des Holocausts zu verschweigen. „Es ist eine historische Tatsache, dass viele Polen beim Judenmord halfen, Juden auslieferten und erpressten, ja sogar während und nach dem Holocaust Juden selbst ermordeten“, sagte der israelische Bildungs- und Diasporaminister Naftali Bennett. Die Rhetorik des polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki verschärfte den Konflikt weiter. Bei der Sicherheitskonferenz in München fragte ein israelischer Journalist den Premierminister, ob er sich strafbar mache, wenn er von der Geschichte seiner Familie erzähle. Die wurde während des Zweiten Weltkriegs von polnischen Nachbarn bei der Gestapo denunziert, konnte aber rechtzeitig fliehen. Morawiecki erwiderte: „Nein, man muss keine Strafe fürchten, wenn man behauptet, dass es polnische Täter gab, so wie es jüdische Täter gab, so wie es russische Täter gab, so wie es ukrainische und nicht nur deutsche Täter gab.“ Der Jüdische Weltkongress (WJC) hielt diese Aussage für „absurd“. „Polens Regierungschef hat erschreckende Ignoranz gezeigt mit seiner unverschämten Behauptung, dass sogenannte jüdische Täter zum Teil verantwortlich waren für den Versuch der Nazis, das europäische Judentum auszurotten“, hieß es in einer Erklärung. Das komme dem Versuch der Geschichtsfälschung gleich.

Auch unabhängig von der Debatte um das neue Gesetz ist das gesellschaftliche Klima in Polen gegenüber der jüdischen Bevölkerung rauer geworden.  Jüdische Gemeinden und Organisationen in Polen berichten, dass sich die Stimmung im Land verändert hat. Die Zahl der Beleidigungen und Bedrohungen gegen jüdische Einrichtungen wachse.

Was bedeutet das für Polen mit jüdischem Background? Wie ist die Stimmung im Land? Was hat sich verändert? Wir haben fünf von ihnen gefragt.

Patrycja Dołowy, 40, Fotografin und Aktivistin

„Was der Ministerpräsident in München gesagt hat, ist empörend, abscheulich und böse. Alles, was diese Regierung verstecken wollte, hat sie nun noch deutlicher ans Tageslicht gebracht.

Meine Großmutter und ihre Zwillingsschwester flohen während des Todesmarsches aus Auschwitz. Als sie zu ihrem Haus in Łódź zurückkehrten, begrüßten ihre enttäuschten Nachbarn sie mit den Worten: ‚Diese Juden sind zurück.‘ Und in den 1950er-Jahren, als mein Vater zur Schule ging, versammelten sich regelmäßig ältere Kinder, um diejenigen zu verprügeln, die nicht am Religionsunterricht teilnahmen.“

 

Stanisław Skarżyński, 34, Journalist

„Ich habe Arrangements getroffen für den Fall, dass ich schnell das Land verlassen muss. Und ich bin nicht der Einzige. Für mich, einen Polen jüdischer Abstammung, ist das ein politisches Statement. Es ist so schrecklich wie simpel: Die polnische Regierung und die regierende Partei haben sich dafür entschieden, den dunklen, antisemitischen Weg zu gehen, und die polnischen Juden sind wieder diejenigen, die sich in ihrem eigenen Land nicht sicher fühlen können.“

Ruta Śpiewak, 41, Soziologin an der Polnischen Akademie der Wissenschaften

„Ich bin mit den Geschichten meines Großvaters aufgewachsen. Eine seiner Schwestern ist im Ghetto von Białystok gestorben, eine andere in Treblinka. Ich wuchs also im Schatten dieser schrecklichen Traumata auf. Gleichzeitig aber hatte ich das Gefühl, dass Antisemitismus mich nicht betrifft, auf keine Weise. Das war bloß Geschichte. Seit vergangenem Jahr aber ändert sich etwas. Stimmen, von denen ich glaubte, sie seien längst vergangen, kehrten in den öffentlichen Diskurs zurück. Es sind Stimmen, die sagen, dass ein Jude jemand Böses oder Fremdes sei. Ich bin enttäuscht, denn es zeigt sich, dass es selbst in meiner Gemeinde Leute gibt, die nichts Falsches daran sehen, was gerade über Juden und den Holocaust gesagt wird. Ich mache mir Sorgen um die Sicherheit meiner Kinder und frage mich, ob ich sie vor diesem Hass schützen kann. Ich frage mich, ob das hier noch mein Land ist. Auf der anderen Seite bin ich froh, dass ich Unterstützung von der jüdischen Gemeinde und von den Menschen um mich herum erfahre, die, obwohl sie nicht jüdisch sind, genauso empört und traurig sind wie ich.“

Paweł Passini, 40, Theaterdirektor

„Wir leben in spannungsreichen Zeiten, die Menschen sehnen sich nach einfachen Antworten, und die Monster wurden nun wieder entfesselt. Es ist widerlich, dass Polen seine internationale Stellung für interne Kämpfe opfert. Polen braucht eine Art empathischen Raum für Konversationen über jüdische Themen. Das ist besonders wichtig in einem Land, in dem, wie es heißt, die Grenze durch jedes Bett verläuft, ein Land der Grenzen. Ich will das alles verstehen als Pole, als Jude, als jemand, der zu einem Viertel Grieche mit italienischen Wurzeln ist. Wir waren schon recht weit, was diese Arbeit am Verstehen angeht, und jetzt wird die Arbeit vieler Jahre in einem Kampf um Macht einfach so zerstört.“

Monika Sznajderman, 58, Schriftstellerin und Verlegerin

„Ich mache mir um mich keine Sorgen. Ich mache mir Sorgen um dieses Land. Darum, wie es in einigen Jahren aussehen wird, und um meine Kinder und Enkel. Werden sie in einem archaischen, rückwärtsgewandten, nationalistischen, großkatholischen Polen leben? Wird die nächste Generation wieder dazu gedrängt werden, das Land zu verlassen? Damit rechne ich.

Ich bin wütend und verzweifelt. Wütend auf diese Regierung, dass sie Hass sät – gegen Juden, Ukrainer, Flüchtlinge –, ihn auch noch befeuert, im besten Fall passiv zusieht. Ich bin wütend auf die katholische Kirche, die im schlimmsten Fall diesen Hass auch befeuert und im besten Fall ebenfalls passiv bleibt. Und ich bin verzweifelt, weil das mein Land ist.“

Titelbild: Maciek Nabrdalik/The New York Times/laif