Abu Abdallah hat eine genaue Vorstellung davon, wie sein Haus aussehen soll – jedenfalls nicht so wie die zwei Norm-Blechquader, die ihm hier zur Verfügung stehen. Also hat er die Container mit einem Giebel verbunden und aus Pressspanplatten einen Gartenzaun gesägt. Auf die Front hat er eine Fassade wie aus dem Bilderbuch gepinselt: Backsteine, ein Tor aus Holzlatten, sogar schmiedeeiserne Riegel.
Über der Tür flackert selbst im grellen Mittagslicht eine Energiesparlampe. Dabei gibt es Strom eigentlich nur abends. Auch Wasser ist rationiert. Trotzdem plätschert im Atrium ein Brunnen – ebenfalls aus Bodenplatten gebastelt. Zumindest das Geräusch erinnert seine Familie an die Heimat. „In Syrien hatten wir riesige Häuser“, sagt der 50-Jährige und wendet sich wieder den Zahlen in dem Büchlein auf seinen Knien zu.
Wie alle Camps sollte Zaatari ein Provisorium sein – jetzt ist es eine kleine Stadt
Eigentlich dürfte Abu Abdallah auch kein Geld mit den Falafeln verdienen, die seine Angestellten hinter ihm aus dem Öl fischen. Ja, eigentlich dürfte er nicht mal Zugang haben zu den gewaltigen Mengen an Kichererbsen, die er wöchentlich verarbeitet. Weder hat er eine Arbeitserlaubnis in Jordanien, noch zahlt er hier Steuern.
Mit seinen zwei Frauen und acht Kindern lebt er in Zaatari, einem der größten Flüchtlingslager der Welt, rund zehn Kilometer von Syriens Südgrenze entfernt. Downtown, so nennen die heute fast 80.000 Bewohner die ältesten Bereiche des Lagers, die schon bestanden, als es 2012 noch eine notdürftige Ansammlung von Zelten im Sand war.
Wie in den meisten Flüchtlingslagern wird die Infrastruktur offiziell vom Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) gestemmt, im Fall von Zaatari gemeinsam mit der jordanischen Regierung. Und wie alle Camps sollte Zaatari ein Provisorium sein, isoliert vom Gastland, finanziert von Hilfsorganisationen und anderen Staaten, wie etwa auch Deutschland. Eine logistische Herausforderung, die sich aus Sicht der Helfer nur mit strengen Standards meistern lässt. Mit Planquadraten und Kalorien-pro-Kopf-Rationen. Viel Raum für Individualität bleibt da nicht mehr.
Doch die Individualität ist auch, was Menschen hilft, ihre Würde zu bewahren. Weil er zu dieser Einsicht gekommen war, verpasste sich der Entwicklungshelfer Kilian Kleinschmidt 2013 den inoffiziellen Titel „Bürgermeister von Zaatari“ und erlaubte der Individualität, ein wenig über die Planquadrate hinwegzuwuchern.
Champs-Élysées nennen die Syrer ihre Einkaufsmeile. Auf 1,8 Kilometer Länge drängen sich etwa 2.500 bis 3.000 Shops
Als Kleinschmidt die Lagerleitung übernommen hatte, war er mitten in eine Revolte geraten. Es herrschte Chaos, im Guten wie im Schlechten – oder wie er später in Interviews resümierte: „Die Menschen waren längst dabei, eine Stadt zu errichten.“
Wenn sie die Straßenlaternen anzapften, Leitungen verlegten, Armaturen aus Sammelduschen abmontierten, nannten sie das nicht Diebstahl, sondern „Privatisierung“. Die Wohncontainer, mit einem Kran nach Feuerschutzempfehlungen ausgerichtet, standen fünf Minuten später auf improvisierten Rollen. Die Menschen hatten es eilig, ein Abziehbild ihrer Heimat zu schaffen. Und dazu gehört als sozialer Mittelpunkt eben auch ein Souk, ein arabischer Markt. Champs-Élysées nennen die Syrer ihre Einkaufsmeile. Auf 1,8 Kilometer Länge drängen sich etwa 2.500 bis 3.000 Shops. In den Auslagen: ofenfrisches Gebäck, Kanarienvögel, Wasserpfeifen, Streetwear, Brautkleider – alles, was nicht auf dem Versorgungsplan der UN steht.
Kleinschmidt wagte ein Experiment: Was passiert, wenn man solchen Aktionismus erst mal zulässt und dann versucht, ihn in geordnete Bahnen zu lenken? Er teilte das Lager in zwölf Distrikte auf, ließ für jeden Straßenzug einen informellen Chef bestimmen, um das mafiöse Geklüngel zu unterbinden, das sich hier auch gebildet hatte. Weiter enthedderte er mithilfe der selbst ernannten Elektriker das spaghettiartige Stromnetz. Nach zwei Jahren zog Kleinschmidt weiter und hinterließ etwas, das Migrationsforscher „Camp City“ nennen.
Einer dieser Forscher ist der Architekt Philipp Misselwitz, der über die Urbanisierung von Lagern promoviert hat. Wie Kleinschmidt sieht er in der DIY-Kultur („Do it yourself“) Zaataris einen Ausdruck dafür, dass die Flüchtlinge ihre Handlungsmacht wiedererlangt haben – und damit die vielleicht wichtigste Ressource zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen.
Wie auf Ameisenstraßen verlassen Syrer das Camp und kehren bepackt mit Baumaterial und Waren wieder zurück
Wer sich Zaatari nähert, fährt durch Einöde, getarnte Flugzeughangars künden vom nahen Kriegsgebiet, dann taucht ein Erdwall auf, ein Graben, ein Zaun. Alle paar hundert Meter rings um das Lager sitzen jordanische Soldaten in ihren Panzern. Aber dazwischen führen Trampelpfade zum benachbarten Dorf. Wie auf Ameisenstraßen verlassen Syrer das Camp und kehren bepackt mit Baumaterial und Waren wieder zurück. Nur bei elektrischen Geräten blicken die Soldaten auf, wegen der Brandgefahr. Kühlschränke und Fernseher gelangen trotzdem ins Lager. Zaataris Mikroökonomie basiert je nach Sichtweise auf zwielichtigen Geschäften – oder dem, was Psychologen Resilienz nennen: Widerstandsfähigkeit.
Im Schatten des Blechzauns vor der Basis der UN hocken Teenies mit ihren Smartphones und nutzen das WLAN. Aus militärischen Gründen ist es durch ein Passwort geschützt. „Wir ändern es jeden Tag“, sagt UNHCR-Mitarbeiter Gavin White. „So schnell knacken sie es.“ Er wundert sich über gar nichts mehr. „Man findet beinahe alles hier.“ Vom Pizzadienst, dessen Adresssystem so ausgetüftelt ist, dass die UN es zu kopieren suchen, bis zum Reisebüro, das All-inclusive-Tickets bis nach München anbietet. „Normalerweise wird eine so starke Infrastruktur von der Regierung unterbunden“, sagt White: „Weil es ein Zeichen dafür ist, dass die Leute sich niederlassen.“ Andererseits profitiert die jordanische Wirtschaft offensichtlich vom florierenden Lagerleben. „Der Dinar war nie so stark. Drüben im Dorf sieht man jede Menge Baustellen.“
Für White bedeutet dieser Handel vor allem eine praktische Ergänzung: „Die Syrer sind sehr anspruchsvoll. Wir können gar nicht alles ins Lager schaffen, was sie im Alltag brauchen.“
28 Dollar bekommt jeder Flüchtling im Monat auf eine Karte gebucht, mit der sich jedoch nur in den zwei offiziellen Supermärkten zahlen lässt. „Sie beschweren sich über die Preise und die Qualität“, sagt White. Viele kauften palettenweise, was sich auf dem Markt verkaufen lässt. Die UN nehmen es hin, dass die Flüchtlingshilfe schnell in Cash umgewandelt wird.
Als Startkapital für ein Geschäft im Souk von Zaatari reicht das natürlich nicht. Mehr als zehn Millionen Dollar sollen hier laut Schätzungen der UN im Monat umgesetzt, die besten Stellplätze auf einem illegalen Immobilienmarkt gehandelt werden. Die meisten Gründer haben einen jordanischen Investor gefunden – oder sich nach oben gehandelt wie der 24-jährige Ahmad.
Ein Statement, dass das Leben weitergeht, dass man vielleicht seine Heimat verloren hat, aber nicht die Selbstachtung
In Syrien war er Kleinbauer. In Zaatari verkaufte er erst Obst auf der Straße, dann expandierte er zum Supermarkt-Betreiber. „Ich brauchte teure Medikamente für meine Kriegsverletzung“, erklärt er. Aus Wettbewerbsgründen geboten die UN Einhalt: Mit seinen Preisen bootete Ahmad die zwei offiziellen Läden aus, immerhin zahlen diese Steuern und Miete. Also sattelte er um und war nur drei Monate später Besitzer einer Kleiderboutique. Heute hat er drei Filialen und zehn Mitarbeiter. Mit einem Shop macht er in guten Zeiten über 3.000 Dinar im Monat. Das ist weit mehr, als jordanische Durchschnittsverdiener pro Monat bekommen.
Was Abu Abdallah sein Gartenzaun ist, sind Ahmads Kundinnen die neuesten Trends aus Damaskus: ein Statement, dass das Leben weitergeht, dass man vielleicht seine Heimat verloren hat, aber nicht die Selbstachtung. Trotzdem, Ahmad will so schnell wie möglich zurück nach Syrien. Was er dort vorhat? „Ich werde anbieten, was die Leute brauchen.“ Dann schiebt er nach: „Wir Syrer sind Macher.“ Diesen Satz hört man oft in Zaatari. Im Separee seines kreativ ausgestalteten Containers gibt es Umkleidekabinen, bunte Partykleider und zarte Negligés. Die Designer mailen ihm Fotos ihrer Kollektionen, und wenn er eine Genehmigung bekommt, das Lager zu verlassen, holt er die Ware mit einem gemieteten Kleinlaster in Amman ab. Dorthin wird sie mit dem Schiff aus Syrien geliefert. „Das ist ziemlich riskant. Aber ich habe einen guten Instinkt dafür, was gefragt ist.“
Eine gute Balance zu finden zwischen Hilfe und Selbsthilfe, zwischen Regeln und Freiräumen, das bleibt die Krux
Zur freien Marktwirtschaft gehört allerdings auch, dass es Verlierer gibt. Im Lager sind das die Bräute, die immer jünger werden. Weil Familien mit dem Brautpreis den Haushalt aufbessern. Und es sind die Jungs, die ihre Väter verloren haben und auf den Champs-Élysées die Ernährerrolle übernehmen, statt die Lagerschule zu besuchen.
Eine gute Balance zu finden zwischen Hilfe und Selbsthilfe, zwischen Regeln und Freiräumen, das bleibt die Krux. Der ehemalige Lagerleiter Kleinschmidt geht inzwischen noch weiter. Er glaubt, dass wir Flüchtlingslager wie Städte behandeln sollten – egal wie dauerhaft sie angelegt sein mögen. Für die praktische Umsetzung will der Amerikaner Michael Castle Miller mit seiner NGO „Refugee Cities“ sorgen. Seine Idee: den Unternehmergeist der Flüchtlinge nutzen und Sonderwirtschaftszonen mit eigenen Gesetzen etablieren. Diese Geschäftszentren sollen gezielt die Wirtschaft des Gastgeberlands ankurbeln und nicht nur für die Flüchtlinge Arbeitsplätze und die Möglichkeit zur Fortbildung schaffen, sondern auch für die Einheimischen. Für die Flüchtlinge wiederum wäre der Aufenthalt in diesem Alternativmodell keine verlorene Lebenszeit, weil sie irgendwann mal mit neuem Wissen in ihre Heimat zurückkehren können.