Es dämmert, als er den Trümmerhaufen erreicht, der mal seine Heimatstadt war. Ein Sandsturm trübt zusätzlich die Sicht. Er schließt die Fenster, sofort wird es unerträglich warm im Auto, sofort rauscht die Klimaanlage. Im Schritttempo fährt er die breite Hauptstraße entlang. Laternen gibt es nicht, aber brunnentiefe Schlaglöcher. An einem zweistöckigen Gebäude, das mit Einschusslöchern übersät ist, biegt er ab. Idriss Ayl schaltet das Autoradio aus, das den Wagen eben noch mit kurdischer Pop-Musik beschallt hat. Dieses Haus, sagt er und zeigt auf die durchlöcherte Fassade, gehört meiner Tante, sie ist beim IS oder tot, genau wie die Cousinen, er hat nichts mehr von ihnen gehört, seit damals. Es ist ein heißer Tag im späten Frühjahr 2016.

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Khana Sor (Foto: Chris Grodotzki)

Kaum Menschen, aber einige Schafe laufen durch die leeren Straßen von Khana Sor, Idriss Ayls Heimatstadt

(Foto: Chris Grodotzki)

Idriss Ayl, gerade 24 Jahre alt, ist ein Opfer des IS-Horrors, der noch immer andauernden Verbrechen an der religiösen Minderheit der Jesiden, die von UN-Experten letztes Jahr als Völkermord eingestuft wurden. IS-Terroristen nennen Jesiden Teufelsanbeter, da sie den Namen des Teufels nicht aussprechen, keine Hölle kennen, nur die Wiedergeburt. Als Anfang August 2014 die Islamisten nach Sindschar kamen, das jesidische Kernland im Südwesten des irakischen Kurdistan, verließ Ayls Familie nur Stunden zuvor das Haus, so sagt er. 

In den folgenden Tagen töteten die IS-Anhänger nach Angaben der UN mehr als 5.000 Jesiden. Sie entführten 7.000 jesidische Frauen und Mädchen, von denen etwa 3.000 noch immer in Gefangenschaft sind. Sie ermordeten auch Idriss Ayls Onkel, nahmen Tanten und Cousinen mit. Die Familie, sagt er, hätte das Haus ein paar Stunden nach seiner Familie verlassen, da waren die Terroristen schon am Ortsausgang, holten alle Frauen und Kinder aus den Autos, erschossen die Männer

Ayl lebt mit Eltern und Geschwistern als Vertriebener ganz im Norden des Landes, in der Stadt Zakho, wo Irak an Syrien und die Türkei grenzt, Bekannte dort haben sie aufgenommen. Beim Flüchtlingswerk der UN haben sie sich nie als Flüchtlinge registriert. Sie erhoffen sich davon nichts. Deren Hilfsgüter reichen doch nicht mal für die, die in den Camps leben, sagt Ayl.

Zakho liegt in der kurdischen Autonomieregion im Irak, wohin die allermeisten Jesiden aus Sindschar vor zwei Jahren flohen. Bis der IS kam, galt die Region als Zukunftsregion, das deutsche Wirtschaftsministerium unterhält in der kurdischen Hauptstadt Erbil sogar ein eigenes Büro, wo Investoren Unterstützung finden. Schon lange war dort kein deutscher Unternehmer mehr. Jetzt sind deutsche Soldaten in der Region. 

Gemeinsam mit anderen Nato-Verbänden bilden sie die Peschmerga aus, die Streitkräfte der irakischen Kurden. Die Peschmerga kämpfen an vorderster Front gegen die Terroristen vom sogenannten Islamischen Staat, die noch immer große Gebiete im Süden der Kurdenregion besetzt halten. Nach dem Beginn des Völkermords beschlossen die USA wieder Truppen in den Irak zu schicken. Deutschland entschied, sich dem Kampf gegen den IS mit Waffen und Flugzeugen anzuschließen. 

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Flüchtlingslager in Scharja, Irak (Foto: Chris Grodotzki)

Eine Flüchtlingslager in der irakischen Stadt Scharja. Ayl und seine Freunde besuchen regelmäßig die von Jesiden bewohnte Lager rund um die kurdische Großstadt Dohuk

(Foto: Chris Grodotzki)

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Eine jesidische Familie in einem Flüchtlingslager im Irak (Foto: Chris Grodotzki)

Eine jesidische Flüchtlingsfamilie verabschiedet Ayl und seine Freunde durch ein Autofenster. Die Gruppe besuchte ein Flüchtlingscamp, um deutsche Spenden vorbeizubringen

(Foto: Chris Grodotzki)

Aus Idriss Ayls Heimatstädtchen Khana Sor, im Norden des Sindschar-Gebirges gelegen, wurden die Terroristen schon im Dezember 2014 vertrieben. Doch erst jetzt, fast zwei Jahre später, kehrt er nach Hause zurück, zum ersten Mal. Er sei nicht früher gekommen, weil er Angst hatte vor der Rückkehr, erklärt er entschuldigend auf dem Weg, und blickt in die karge Steinwüste, die sich zwischen Dohuk und Sindschar erstreckt. Er habe sich gefürchtet, fährt er fort, vor dem, was der IS hinterlassen hat. Ayl sagt auch, er glaube an seine Heimat, an eine Zukunft im Nordirak, und: „Ich will meine Kinder in Sindschar groß ziehen.“ Es klingt trotzig. 

Die Massaker an den Jesiden

Die jesidische Religionsgemeinschaft ist seit ihrem Bestehen immer wieder Opfer von Verfolgung geworden. Die Massaker wurden häufig nur von den Jesiden selbst überliefert. Der jüngste Versuch der IS-Terroristen, die Jesiden zu vernichten, ist ihrer Überlieferung nach das 73. oder das 74. Massaker. 

An der Universität von Dohuk, nicht weit von Zakho, ist er Studentensprecher, er hat 5000 Facebook-Freunde, die meisten Jesiden wie er, aber auch viele Muslime. In seinen Posts ruft er dazu auf, nicht nach Europa zu gehen, die Heimat aufzubauen. Fordert Völkerverständigung, Muslime nicht pauschal zu verurteilen, nur weil viele die Jesiden – wie die IS-Terroristen – Teufelsanbeter nennen. 

Obwohl Idriss Ayl nicht an die Religion seiner Eltern glaubt, sich als Agnostiker bezeichnet, begreift er sich als Jeside. Die Religion definiert im Mittleren Osten die Identität. Das gilt auch für ihn, der keine Vorurteile mag und Toleranz predigt. Er will die strengen Heiratsvorschriften der eingeschworenen Gemeinschaft einhalten, nur eine Jesidin aus seiner Kaste zur Frau nehmen. Er studiert in Dohuk Sozialwissenschaften, weil er die Genozide an seinem Volk aufarbeiten möchte.

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Snuny bei Nacht (Foto: Chris Grodotzki)

Die Straßen Snuyns bei Nacht

(Foto: Chris Grodotzki)

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Ein junger jesidischer Mann vor einem Feuerschrein (Foto: Chris Grodotzki)

Ayl besucht in der Nähe von Snuny die jesidische Pilgerstätte Sherfedin

(Foto: Chris Grodotzki)

Doch seit dem jüngsten Völkermord, hat er keine einzige Prüfung mehr bestanden, keine Hausarbeit mehr geschrieben. Statt zu studieren, sammelt er mit anderen Jesiden Spenden, um Mädchen und Frauen frei zu kaufen, die noch in IS-Gefangenschaft sind, um den Flüchtlingen zu helfen, die in der Diaspora keine Verwandten oder Bekannten unterstützen.

Obwohl Khana Sor schon seit eineinhalb Jahren befreit ist, sind keine 300 Menschen zurückgekehrt von den 30.000, die hier mal lebten. Noch immer ist überall Verwüstung, es riecht nach Staub. Es gibt weder Strom noch fließend Wasser, Lebensmittelgeschäfte nur im Nachbarstädtchen, fast zehn Kilometer entfernt.

Ayl öffnet das Metalltor zum Haus seiner Eltern. Ein hohes Quietschen zerreißt die Stille, das orangene Licht der Autoscheinwerfer fällt auf den Garten, auf das einstöckige weiße Haus, das in Form eines Us den betonierten Hof einfasst. Ayl geht schnell voran. Ins Wohnzimmer. Das Schloss der Tür ist ganz, die Fensterscheibe kaputt. Drinnen sind die Schränke aufgebrochen, auf braunen Kacheln liegen unter Scherben die Fotos seiner Kindheit, dazwischen Staubflocken. Er hebt ein Bild auf, lässt es fallen. Zurück in den Innenhof. Ruft seine Freundin an, die jetzt mit ihrer Familie in Deutschland lebt. Videoanruf. 

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Ein junger Mann springt bei Nacht über ein Tor (Foto: Chris Grodotzki)

Endlich wieder zuhause. Idriss Ayl springt über das Tor seines Hauses in Khana Sor. Als seine Familie fliehen musste, versperrte sie alle Türen von innen

(Foto: Chris Grodotzki)

„Ich bin zuhause“, ruft er, fast überschwänglich, und läuft über den Hof, die Kamera im ausgestreckten Arm auf sich gerichtet. Idris Ayl lacht laut, wirft sich auf den harten Betonboden, die Freundin schreit hysterisch, er lacht weiter. Sie würde sich umbringen, sagt sie, müsste sie jemals zurück nach Khana Sor. Dann legt sie auf und er geht ins Wohnzimmer, er brauche ein wenig Zeit allein, sagt er.

Erst als zwei jesidische Freunde durch die zerbrochenen Scheiben schauen, in den Händen Wasserpfeifen und eine Flasche Whiskey, kommt er heraus. Die Freunde sind vor ein paar Wochen zurückgekehrt, sie haben einen Lebensmittelladen im Nachbarort aufgemacht. Bis zum Morgengrauen sitzen sie auf der Terrasse, rauchen, trinken, lachen, reden, schweigen. Über die Zukunft sprechen sie nicht.

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Im Scheinwerferlicht eines Autos sitzt ein junger Mann telefonierend am Boden  (Foto: Chris Grodotzki)

Im Scheinwerferlicht eines Autos sykpt Ayl mit seiner Freundin. Sie ist nach Deutschland geflohen

(Foto: Chris Grodotzki)

Am nächsten Tag fährt Idriss Ayl mit einem Freund nach Sindschar, die Hauptstadt der Region Sindschar. Er will zum Basar, wo er schon als Kind mit den Eltern war. Die Fenster sind weit geöffnet, die kurdische Volksmusik ist wieder laut aufgedreht. Die beiden sind übernächtigt und aufgekratzt. Rauchen pausenlos, trinken Energydrinks. Am Wegrand wehen Flaggen. Weiße, rote, gelbe, rot-gelb-grüne, grün-weiße, mit Sternen, mit Sonnen, mit Kreisen. Immer wenn Ayl eine neue entdeckt, zeigt er mit wilden Gesten darauf – fürs Reden ist es zu laut.

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Ein rauchender Mann auf dem Rücksitz eines Autos (Foto: Chris Grodotzki)

Übernächtigt, übermütig. Auf dem Weg nach Sindschar raucht Ayl eine nach der anderen und erzählt Witze

(Foto: Chris Grodotzki)

Die Flaggen gehören jesidischen Einheiten, der irakischen Polizei, Peschmergaverbänden der irakisch-kurdischen Opposition, den Peschmerga der regierenden kurdischen Partei, der syrischen YPG. Die meisten aber sind von der türkischen PKK, die Deutschland offiziell als Terrororganisation einstuft. Vielen Jesiden gilt die PKK als Befreierin, weil deren Milizen kamen, als der IS einmarschierte und die irakischen Peschmerga flohen. Alle Soldaten in der Region Sindschar kämpfen jedenfalls gegen den IS, für die Befreiung der Jesiden – und alle beanspruchen die Gegend für sich.

Auch die Stadt Sindschar ist zerstört. Der Basar und alle Geschäfte sind zerbombt, genau wie die Wohngebiete, die Kirchen, die Moscheen. Die wenigen Menschen, die zurückgekehrt sind, sind nirgends zu sehen. Ayl will weiter. Erst an einer unscheinbaren Kreuzung im Osten des Sindschar-Massivs hält er wieder an. Die Sonne brennt heiß vom Himmel, Vögel zwitschern aufgeregt. Sonst ist es still. Auf dem hellbraunen, steinigen Boden wuchern Disteln.

Hier ist der IS vorbeigekommen, sagt Ayl, als er aussteigt, und fährt sich fahrig mit den Händen übers sonnenverbrannte Gesicht, durch die schwarzen Haare, die der Staub grau eingefärbt hat. Da drüben liegen Hunderte, sagt er, und deutet auf eine Erhebung am Straßenrand, in der felsigen Ebene fällt sie kaum auf. Die Peschmerga haben die Leichen gefunden, als sie die Gegend im Dezember zurückeroberten.

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Ruinen in Sinjar (Foto: Chris Grodotzki)

Sindschar liegt in Trümmern. Die Wenigen, die wieder zurückgekommen sind in die Stadt, sind nirgends zu sehen

(Foto: Chris Grodotzki)

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Ein junger Mann in einer Landschaft im Irak (Foto: Chris Grodotzki)

Ayl wandert über ein Massengrab in der Nähe der Stadt Hardan. Dort wurden 250 bis 300 jesidische Männer von Kämpfern des IS getötet

(Foto: Chris Grodotzki)

Idriss Ayl läuft hinauf auf die Erhebung, stolpert, stürzt in eine Distel. Breitbeinig bleibt er sitzen, minutenlang, mit starrem Gesicht. „Wir können doch nicht die Toten vergammeln lassen und um Macht streiten!„ sagt er schließlich, haut mit der Faust auf den trockenen Boden, eine Staubwolke steigt auf. Schweigend raucht er dann und blickt auf das Gebirge, das steingrau vor ihm in der Wüste liegt, uralt, schon immer da. „Die Berge“, hat er vorher im Auto gesagt“, sind der einzige, echte Freund der Jesiden.“