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Hilfe, wie helf’ ich?

Du willst Freunden mit psychischen Problemen beistehen, aber weißt nicht, wie? Unserer Autorin ging es ähnlich – bis sie einen ganz besonderen „Erste-Hilfe-Kurs“ belegte

Illustration stabile Seitenlage

Triggerwarnung: In diesem Text geht es um psychische Erkrankungen.

Oft, wenn es meiner Freundin Laura* schlecht geht, ruft sie mich an. Vor ein paar Jahren hatte sie Depressionen. In unseren Telefonaten damals fiel es mir schwer zu verstehen, wieso es ihr nicht langsam besser ging. Anschließend habe ich mich häufig hilflos gefühlt. Nicht helfen zu können ist furchtbar – für beide Seiten.

Das hat auch die Australierin Betty Kitchener erlebt, als sie 15 Jahre alt war. Damals, Mitte der 1960er-Jahre, war sie schwer depressiv. Jahre später kritisierte sie, dass niemand aus ihrem Umfeld sie unterstützen konnte. Kitchener fragte sich: Wieso können Laien nicht bei Suizidgedanken oder bei Panikattacken helfen? Und entwickelte im Jahr 2000 schließlich mit ihrem Ehemann, dem Psychologieprofessor Anthony Jorm, ein Erste-Hilfe-Programm für psychische Gesundheit: „Mental Health First Aid“ (MHFA). Seit 2020 finden die Kurse auch in Deutschland in Trägerschaft des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim statt.

Es ist Ende 2022. Ich denke an meine Telefonate mit Laura. Daran, wie ich manchmal kein Verständnis zeigen kann. Dann melde ich mich für einen der Onlinekurse an: zwölf Stunden Input, aufgeteilt auf sechs Treffen.

Erste Sitzung: Einführung

Montagmorgen, 10 Uhr, Zoom. In die Kamera des Videochats blicken Studenten, Finanzbuchhalterinnen, Ingenieure, Informatikerinnen, Yogalehrer. Viele der 16 Teilnehmenden besuchen den Kurs im Rahmen einer Fortbildung ihres Unternehmens. Eine kurze Umfrage zeigt: Die meisten sind hier, weil sie nicht sich selbst, sondern anderen helfen wollen.

Im Laufe eines Jahres ist im Schnitt mehr als jeder vierte Erwachsene in Deutschland an einer psychischen Störung erkrankt. Das ist einer von vier Kollegen. Eines von vier Geschwistern. Eine der besten Freundinnen. Die MHFA-Ersthelfer*innen-Kurse sollen vermitteln, wie man psychische Probleme erkennt, sie anspricht und in akuten Krisen reagiert. Dabei stützen sich die Kurse auf wissenschaftliche Erkenntnisse. Das Fazit aus meiner ersten Sitzung: Nichts zu tun ist immer falsch.

Das gilt für Ersthelfende, aber auch für Betroffene. Je eher die Erkrankung behandelt wird, desto besser sind die Heilungschancen. Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention hat in ihrem Deutschland-Barometer festgestellt, dass es im Schnitt 20 Monate dauert, bis sich Menschen mit einer depressiven Erkrankung Hilfe suchen.

Zweite und dritte Sitzung: Depression und Suizid

Fallbeispiel Depression: Auch wenn ein Betroffener nicht über seine Gefühle sprechen möchte, ermutigt die Kursleiterin und Ärztin Thien-Hoa Waidelich, Offenheit für ein Gespräch zu signalisieren. Am Ende der zweiten Sitzung schauen wir ein Video an. Darin spricht ein Mann seinen Sportkollegen auf seine Antriebslosigkeit an. Im Gespräch fragt er: Hast du darüber nachgedacht, dir das Leben zu nehmen?

Erste Hilfe bei psychischen Erkrankungen heißt, wie auch bei der klassischen Ersten Hilfe, nicht zu versuchen, eine Krankheit selbst zu therapieren, sondern zu professioneller Hilfe zu ermutigen. Zum Beispiel zu einem Beratungsgespräch oder einer Therapie. Bis man eine Therapie beginnen kann, ist es mitunter ein langer Weg. Sie muss angefragt werden, es braucht ein Erstgespräch mit der Therapeutin beziehungsweise dem Therapeuten, die Krankenkasse muss zustimmen. Oftmals ist Psychotherapie aber wichtig, um zu gesunden.

Ich fühle mich beklommen, als wir das Thema Suizidalität behandeln. Gefährde sich die Person selbst bereits, sollte man die 112 rufen. Wenn jemand einen psychischen Zusammenbruch hat oder nichts mehr geht, könne man auch immer Krisendienste anrufen oder mit der Person direkt zu einer psychiatrischen Klinik in der Nähe fahren.

Ich lerne: Es ist gut, direkt und unmissverständlich nach Problemen zu fragen – aber nicht ewig weiterzubohren, wenn die andere Person nicht reden möchte

Im Kurs üben wir, direkt und eindeutig nach Suizidgedanken zu fragen. Thien-Hoa Waidelich sagt, das sei wichtig, damit die Person offen darüber sprechen kann. Man könne ihr die Scham nehmen und Hoffnung geben, indem man vermittelt, dass es professionelle Hilfe gebe, die das Leiden lindern kann. Gleichzeitig kann man Unterstützung anbieten, geeignete Hilfe zu suchen. Wenn die Person nicht über ihre Gedanken reden möchte, solle man natürlich nicht noch mehrmals nachbohren. Und: Man solle auch auf die eigenen Grenzen achten. Es sei gut, andere Personen mit ins Boot zu holen.

Suizidalität ist noch immer ein Tabuthema – obwohl Suizide gar nicht so selten vorkommen. Im Jahr 2020 haben sich laut Statistischem Bundesamt 9.206 Menschen in Deutschland das Leben genommen. Zum Vergleich: Bei Verkehrsunfällen starben im selben Jahr 2.724 Menschen.

Bei Krankheiten, die mit einer hohen Suizidgefährdung einhergehen, ist eine Behandlung, zum Beispiel durch Psychotherapie, ein entscheidender Präventionsfaktor. Nur: Einer Studie der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) aus dem Jahr 2019 zufolge liegt die Wartezeit auf einen Therapieplatz bundesweit im Schnitt bei knapp fünf Monaten – laut BPtK „inakzeptabel lange“. Wobei Menschen außerhalb der Großstädte signifikant länger auf einen Therapieplatz warten müssen. Und die Corona-Pandemie hat den Bedarf an Therapieplätzen noch vergrößert.

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Viele Lehramtsstudierende machen keine Therapie, weil sie fürchten, später nicht verbeamtet zu werden

Anke Schliwen leitet die Abteilung Sicherstellung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Die KBV ist mit dafür verantwortlich, wie viele Psychotherapeut*innen für die Versorgung zugelassen werden. Dazu prüft der Gemeinsame Bundesausschuss, in dem neben der KBV auch die Krankenkassen, die Krankenhäuser und Vertreter der Patient*innen sitzen, den Bedarf an Psychotherapie. „Schon den Bedarf zu definieren ist schwierig“, sagt Schliwen. „Man muss klären: Wann braucht es therapeutische Versorgung auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung – und wann nicht?“ Schliwen und ihr Team schauen sich an, wie häufig Psychotherapie angefragt, vermittelt und in Anspruch genommen wird.

Aktuell sind rund 38.600 Psychotherapeut*innen in Deutschland über die Kassenärztlichen Vereinigungen tätig. „Psychotherapeuten sind die am stärksten wachsende Arztgruppe“, sagt Schliwen. „Dabei gibt es noch 21 andere Arztgruppen, die auch ihre Daseinsberechtigung haben.“ Einen akuten Bedarf an mehr Psychotherapeut*innen könne die KVB nicht bestätigen.

Die BPtK dagegen fordert rund 1.600 Kassensitze mehr für die psychotherapeutische Versorgung. Der Präsident der BPtK, Dietrich Munz, verweist dabei auf eine gute Erreichbarkeit für Menschen aus ländlichen und strukturschwachen Gegenden. Außerdem hält er es für wichtig, dass Psychotherapeut*innen genügend Kapazitäten für Therapien und Erstgespräche haben. Letztere seien entscheidend, um zu schauen, was Betroffene bräuchten. „Das können Laien nicht leisten.“

Vierte und fünfte Sitzung: Angststörungen und Psychose

Ersthelfende sollen und können keine professionelle Hilfe ersetzen. Auch das lernen wir im Kurs.

Aber wir können eine Brücke bauen, das zeigt auch die fünfte Sitzung. In einem Film lernen wir einen Mann kennen, der unter einer Psychose leidet. Er hat das Gefühl, verfolgt zu werden. Er wirkt panisch. Zwei Nachbarinnen besprechen mit dem Betroffenen, dass sie das Krisenteam oder die Polizei anrufen möchten.

Ich nehme mit: Für Betroffene sind Ängste und Wahnvorstellungen real, und man sollte sie ernst nehmen.

Einer Studie aus dem Jahr 2018 zufolge können Erste-Hilfe-Kurse für psychische Gesundheit Vorurteile gegenüber psychisch erkrankten Menschen abbauen. Das ist wichtig, denn Stigmata und Unwissen über psychische Krankheiten führen nachweislich dazu, dass Erkrankten weniger geholfen wird.

Sechste Sitzung: Substanzmissbrauch

Wann ist ein Konsum von Substanzen, also Alkohol und Drogen, problematisch? Wir lernen: Wenn er negative Auswirkungen auf den Körper oder die Psyche hat, auf Beziehungen, auf den Job oder wenn er Konflikte mit dem Gesetz verursacht. Und: Oft ist der Missbrauch von Substanzen eine Art „Selbstmedikation“ bei psychischen Störungen. Daher ist es wichtig, beides gemeinsam zu behandeln.

Am Ende der letzten Einheit herrscht Dankbarkeit in der Gruppe. Es ist nicht einfach, bei psychischen Erkrankungen zu helfen. Es braucht eine Menge Mut, Geduld, Wissen und Offenheit. Aber es kann etwas bewirken – bei sich selbst und bei der betroffenen Person. Wenn ich eines mitnehme aus dem Kurs, dann das: die Zuversicht, helfen zu können.

Wenn du suizidale Gedanken hast oder glaubst, sie bei anderen festzustellen: Hol dir Hilfe. Zum Beispiel anonym, kostenlos (und egal zu welcher Uhrzeit) bei der Telefonseelsorge: 0800/1110111 oder 0800/1110222 oder online.

* Unsere Autorin schildert hier ihre Erfahrungen im Umgang mit einer ihr nahestehenden Person. Um diese Person zu schützen, haben wir ihren Namen und ihre Rolle geändert.

Illustration: Frank Höhne

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.