Das Heft – Nr. 82

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Manchen depressiven Menschen tut es gut, über ihr Leid zu posten

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Im November konnte David nicht mehr. Nach zehn Jahren im Ausland war er zurück nach Deutschland gezogen, um seine kranke Mutter zu pflegen. Eine alte Schulfreundin lebte noch in der früheren Heimat, ansonsten kannte David niemanden mehr. Er arbeitete Vollzeit, kümmerte sich allein um die Mutter. Für ihn selber blieb kaum mehr Zeit. Anderthalb Jahre hielt David so durch. Dann stellte er fest: „Ich bin total blockiert.“ Die Diagnose: Burn-out und Depression, fünf Wochen Krankschreibung.

In der Zeit beginnt David, auf Twitter über seine mentale Gesundheit zu schreiben. Mitte November schickt er seinen ersten „Depri-Tweet“ ab, dahinter der Hashtag #notjustsad: nicht einfach nur traurig. Schnell merkt er, wie sehr ihm die Kommunikation gefehlt hat, wie einsam er sich fühlt. Und wie gut es ihm tut, dass jemand seine psychische Krankheit ernst nimmt. „In kurzer Zeit hatte ich 80 Follower“, sagt David. „Das hätte ich nicht gedacht.“

Laut der Stiftung Deutsche Depressionshilfe hat jeder fünfte erwachsene Deutsche zwischen 18 und 65 Jahren schon einmal eine depressive Episode durchlebt. Betroffene schildern, dass sie ihre Depression in ihrem sozialen Umfeld gern verschweigen oder deswegen sogar Schuldgefühle empfinden. Auch David twittert lieber unter einem anonymen Account, auch in diesem Text möchte er nicht mit richtigem Namen stehen. Bei depressiven Menschen sei das häufig der Fall, sagt Julia Ebhardt von der Depressionshilfe: „Ein geringes Selbstwertgefühl oder die Angst, jemandem zur Last zu fallen, sind Teil der Symptome.“ Was der Kinder- und Jugendpsychotherapeutin aber auffällt: Seit Beginn der Pandemie würde in den Sozialen Medien verstärkt über psychische Krankheiten gesprochen – auch über Suchtverhalten, Ess- oder Angststörungen. Früher hat sie die Posts und Anfragen von Betroffenen auf dem Instagram-Account der Depressionshilfe noch alleine beantwortet – nun sind sie dafür zu viert. Die Zahl der Follower ist seit April 2020 von 9.000 auf über 46.000 angewachsen.

Hashtags wie #facethedepression holen weitverbreitete psychische Krankheiten aus der Unsichtbarkeit

„Pandemie und Lockdown haben sehr viele Menschen psychisch belastet“, sagt Ebhardt. Diese Erfah­rung habe psychische Krankheiten möglicherweise ein Stück weit entstigmatisiert. Zumindest beobachtet Ebhardt, dass sich immer mehr Betroffene trauen, offen über ihre Krankheit zu reden – und mehr Sachlichkeit und Akzeptanz vom Rest der Gesellschaft einzufordern. Unter dem Hashtag #facethedepression (Stell dich der Depression) zeigen Betroffene Fotos, auf denen sie in die Kamera lächeln und glücklich aussehen – um zu zeigen, wie unsichtbar eine psychische Erkrankung selbst für Freunde und Verwandte ist. Die Betroffenen gehen damit durchaus ein Risiko ein, denn es gibt auch Trolle, die sie beschimpfen.

Unter #eatingdisorder oder #ed (Essstörung) erzählen vor allem Frauen und Mädchen, wie sie sich von gesellschaftlichen Schönheitsidealen unter Druck gesetzt fühlen. Unter den Hashtags #anxiety oder #anxietymakesme tauschen sich Menschen darüber aus, wie sie mit Panikattacken umgehen. Die Posts ermutigen Betroffene, sich ebenfalls zu outen. Eine Userin schreibt, warum ihr das Sprechen über ihren Alltag als Erkrankte so hilft: „Zu wissen, nicht allein zu sein. Gewisse Gedanken aus dem System zu bekommen. Antworten auf Fragen, die mir ewig im Kopf herumgehen. Gehört, gesehen und verstanden zu werden.“

Als „Candystorms“ bezeichnet man die gegenseitige Solidarität im Netz – das Gegenstück zum Shitstorm. Wie wichtig der Social-Media-Zuspruch für die Betroffenen ist, weiß auch Psychotherapeutin Ebhardt: „Das Gute an Hashtags wie #notjustsad ist, dass die Betroffenen sehen, wie die anderen mit einer psychischen Krankheit umgehen. Wenn eine Person über ihre Erfolge berichtet, die sie dank eines Therapieplatzes erzielt, denkt man eher darüber nach, sich selbst auch Hilfe zu holen.“ Eines ist Ebhardt aber wichtig: Die gegenseitige Unterstützung in den Sozialen Medien könne eine richtige Behandlung nicht ersetzen. Oftmals sei sie aber der erste Schritt dazu. Ebhardt erlebt häufig, dass psychisch kranke Menschen auf Instagram & Co. zum ersten Mal überhaupt über ihre Erkrankung sprechen – wie David. Seit Kurzem arbeitet er wieder. Wegen seiner Depression möchte er nun eine Psychotherapie beginnen.

Titelbild: Mafalda Rakoš

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.