Thema – Angst

Suchen Newsletter ABO Mediathek

Alle Ängste schließen

Die Pandemie hat bei vielen Menschen Ängste verstärkt und die Wartelisten für Therapieplätze noch länger gemacht. Können Selbsthilfe-Apps helfen?

  • 5 Min.
TheraoieApp

„Das erste Mal fing es an, als ich in der Uni war“, sagt Annika*. Der schmale Fahrstuhl brachte die damalige Politikstudentin vom Erdgeschoss hoch in den achten Stock. „Als ich oben war, hat plötzlich die ganze Uni gewackelt. Ich kam die Treppe nicht mehr runter, mir war schwindelig.“ Den Vorfall hat Annika erst unter Stress und Höhenangst verbucht – ihre Abschlussarbeit stand kurz bevor. Aber die Situation wiederholte sich. Heute weiß sie, dass sie eine Angsterkrankung hat.

Angst ist ein wichtiger Mechanismus, der vor Gefahren warnt. Zur Krankheit wird sie, wenn sie in keinem angemessenen Verhältnis zur Bedrohung steht. Bestimmte Situationen können Angstzustände verursachen, aber nicht immer gibt es einen konkreten Auslöser. Betroffene erleben das Angstgefühl sehr intensiv und können es nicht abschalten oder kontrollieren. Durch Vermeidungs- oder Sicherheitsverhalten versuchen einige, die Angst zu umgehen – aber das schränkt den Alltag häufig stark ein. Mindestens zehn Millionen Menschen in Deutschland litten vor Ausbruch der Covid-19-Pandemie unter Angststörungen, darunter mehr Frauen als Männer. Im Pandemiejahr 2020 gab es einen weltweiten Anstieg von Depressionen und Angststörungen um 25 Prozent, wie eine internationale Studie in der medizinischen Fachzeitschrift „The Lancet“ zeigt. Die Zahlen steigen, doch Therapieplätze sind weiter knapp. In Deutschland warten Kassenpatient*innen 2021 laut einer Umfrage des Verbands Psychologischer Psychotherapeuten durchschnittlich 24 Wochen auf einen Therapieplatz. Auf dem Land sei die Wartezeit meist besonders hoch, sagt die Psychologin Anna Wehrheim.

Experten warnen davor, sich einfach Selbsthilfe-Apps herunterzuladen

Wehrheim arbeitet in der Angstambulanz der Charité – Universitätsmedizin Berlin und promoviert zu Onlinetherapien. Ihr Schwerpunkt ist Selbsthilfe bei Angststörungen. Eine große Chance sieht Wehrheim in digitalen Therapietools wie Selbsthilfe-Apps: „Man kann sofort loslegen, jederzeit und von jedem Ort aus.“ 

Ihre zweite starke Panikattacke hatte Annika im Zug nach Berlin. Etwa ein halbes Jahr vor ihrer Diagnose hatte sie im Freundeskreis von ihrem steigenden Stresslevel berichtet. Als sie das mulmige Gefühl  überkam, öffnete sie die App. „Ich habe auf den Menüpunkt ‚Autogenes Training‘ gedrückt.“ Dieses Entspannungsverfahren hatte sie bereits als Jugendliche kennengelernt. Die ruhige Stimme in der App begleitete sie bei der Selbsthypnose.

Die App-Stores sind voll mit Gesundheitsanwendungen. Zu den Suchwörtern Angststörung und Panikattacke werden rund 250 Ergebnisse ausgespuckt. Doch Psychologin Anna Wehrheim rät dringend davon ab, sich einfach irgendeine App aus dem Store runterzuladen: „Es hilft auch wenig, bei Kopfschmerzen eine Tablette gegen Übelkeit zu nehmen.“ Das Programm müsse zur Diagnose passen. Die sollte vorab von Ärzt*innen oder Psychotherapeut*innen gestellt werden.

Krankenkassen übernehmen zum Teil die Downloadkosten

Seriöse und geprüfte Apps können über das DiGA-Verzeichnis (digitale Gesundheitsanwendungen) gefunden werden, erklärt Wehrheim. Hat eine App das Prüfverfahren bestanden, listet sie dort das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Die geprüften Apps seien auf dem aktuellen Stand von Forschung und Technik und müssen auch Datenschutzkriterien erfüllen. Die Kosten für die Anwendungen können gesetzliche Krankenversicherungen übernehmen. Das regelt seit Ende 2019 das Digitale-Versorgung-Gesetz.

Aktuell gibt es im Verzeichnis zwei Apps für Angst- und Panikstörungen, dazu kommen drei Webanwendungen. Die Downloadzahlen bewegen sich zwischen 1.000 und 5.000, während nicht gelistete Apps im Store teils über eine Million Downloads haben. Die geprüften Apps können auch auf dem kurzen Weg von Hausärzt*innen verschrieben werden.

 

„Mein linker Fuß ist entspannt, mein linker Fuß ist ganz entspannt“, sagt Annika ihren Leitsatz beim autogenen Training auf. Zum Satzende hin wird ihre Stimme langsamer und tiefer. Die Gedanken sollen nur um den linken Fuß kreisen. „Ich entspanne dann Körperteil für Körperteil, von unten nach oben. Im besten Fall bin ich dann auch ganz entspannt“, sagt Annika. Durch die App und das autogene Training konnte sie immerhin noch 40 Minuten im Zug weiterfahren. Dann musste sie aussteigen.

Annika hat bei digitalen Therapietools gemischte Gefühle. „Langfristig hätte mir meine App nicht geholfen.“ Als viel wichtiger empfand sie ein Telefoncoaching, das ihr die Krankenkasse ermöglichte: Der persönliche Kontakt zu einer neutralen und unterstützenden Person habe sehr geholfen – ebenso die Tatsache, dass sie für die Termine keine große Überwindung brauchte. So konnte sie auch zu Hause oder beim Spaziergang Unterstützung bekommen. Denn der Weg zur Therapiepraxis war schwierig.

Apps können helfen, eine Therapie ersetzen sie aber nicht

Achtsamkeit, Atemübungen und Meditation: Selbsthilfe-Apps greifen oft Methoden der kognitiven Verhaltenstherapie auf. Die Therapieform gilt bei Angststörungen als gängige Behandlung, sagt Anna Wehrheim. Zu Beginn der Therapie sei es wichtig, das Verhalten zu erkennen: „Die Betroffenen müssen vorbereitet werden und wissen, was genau los ist.“ Es gehe darum, gedankliche Muster und Auslöser zu identifizieren und die Angst besser zu verstehen. Mit Entspannungs- und Achtsamkeitsübungen soll erlernt werden, die Angst umzulenken. „Das bedarf ganz viel Übung, die hauptsächliche Arbeit passiert außerhalb der Therapiestunde oder App.“

Die Psychologin sieht in Selbsthilfe-Apps eine Option, um die Wartezeit bis zur Therapie zu überbrücken, aber auch „um Eigeninitiative zu zeigen, Werkzeuge in die Hand zu bekommen, um mit der Angst umzugehen und sich ein bisschen empowert zu fühlen.“ Auch wenn eine App passt, kann sie zwar helfen, doch sie ersetzt keine Therapie.

* Der Name wurde auf Wunsch der Interviewten geändert.

Dir selbst geht es nicht gut? Du kennst jemanden mit Angststörung und bist unsicher, wie du dich verhalten kannst? Anonyme, kostenlose Beratung zu jeder Tages- und Nachtzeit bekommst du unter anderem unter den bundesweiten Telefonnummern 0800-1110111 oder 0800-1110222 oder auf www.telefonseelsorge.de.

Titelbild: Elena Ratzer

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.