Das Heft – Nr. 74

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Hinter den Türen

Die Art, wie wir wohnen, ist viel komplizierter, als es schöne Interieurfotos auf Instagram vorspiegeln. Ein Gespräch mit der Wohnforscherin Irene Nierhaus

fluter: In diesem Heft gibt es einen Text über eine Frau in den USA, die aus Geldmangel in ihrem Auto lebt. Kann man da überhaupt noch von „Wohnen“ sprechen?

Irene Nierhaus: Als Mensch ohne Adresse wird man schnell ausgegrenzt. Aber das ist zunächst mal nur ein sozialer Maßstab. Ich möchte solche Lebensverhältnisse keinesfalls verharmlosen. Aber es gibt Untersuchungen von Wohnungslosen, wo dieses Sich-Einrichten deutlich zu sehen ist: Leute, die den Gehsteig um ihren Schlafplatz herum penibel sauber halten und ihre Habseligkeiten ordnen oder sich immer auf eine bestimmte Bank setzen. Das sind Minimalformen des Wohnens, die auch in Obdachlosenheimen zu beobachten sind, wenn Leute um ihr Bett herum Gegenstände wie Bilder oder Stofftiere platzieren. So schaffen sie eine Art eigenen Raum um sich herum.

Sehen Sie da ähnliche Muster und Gewohnheiten wie beim Wohnen in Wohnungen und Eigenheimen?

Das ist alles Teil des gesellschaftlichen Wohnwissens, das ich erforsche. Damit meine ich nicht in erster Linie das Know-how der Experten, also von Architekten oder Möbeldesignern. Mich interessiert mehr das Wissen der wohnenden Menschen selbst, das eher ein eingeübtes Handeln ist. Es geht um die Gemengelage zwischen den vorgegebenen Wohnnormen und dem, was wir als Personen damit tun. Und das können eben auch ganz abseitige Dinge sein.

„In Wahrheit beinhaltet Wohnen auch vieles, was wir lieber verborgen halten würden: Krankheiten, Ängste, Gewalt“

Was für Dinge meinen Sie beispielsweise?

Wohnen wird in der Außendarstellung überwiegend positiv gecodet: Schaut her, das ist unsere neue Wohnung, ist sie nicht schön? In Wahrheit beinhaltet Wohnen ja auch viel, was wir lieber verborgen halten: Krankheiten, psychische Befindlichkeiten, Ängste, Gewalt. Auch das ist Wohnwissen, das in der öffentlichen Repräsentation des Wohnens aber nicht vorkommt.

Wie werden uns die Normen des Wohnens vermittelt?

Wir schauen eine Serie, und da hält sich eine Frau in einem sorgfältig ausgestatteten Wohnraum auf oder ein Mann in einem soundso gestalteten Büro. Es entstehen Verschränkungen von Subjekten und Geschlechtern mit Räumen, die wir durch Medienrezeption aufnehmen und dann selbst praktizieren.

Foto: Sybille Bergemann / Ostkreuz

Kaum eine andere Wohnform verbindet man so mit der DDR wie die Platte. Mit vorgefertigten Betonplatten schaffte man in Zeiten der Wohnungsknappheit schnell und viel Raum für Menschen, die oft froh waren, aus kaputten Altbauten in einen Neubau ziehen zu können. Die 2010 verstorbene Fotografin Sibylle Bergemann zeigte, wie unterschiedlich die Menschen mit ihren (vom Grundriss her) normierten Wohnungen umgegangen sind.

Und wie sehen diese Normen aus?

Es gibt nie nur die eine Norm. Aber das gängige Wohnkonzept in Deutschland und Österreich ist im Grunde immer noch das der Kleinfamilie, mit der üblichen Aufteilung: Wohnzimmer, Elternschlafzimmer, Kinderzimmer, Küche, Bad und so weiter. Auch wenn inzwischen viele neue Wohnformen wie Kommunen, Baugruppen, WGs oder Mehrgenerationenhäuser existieren und es eine wachsende Zahl von Singlehaushalten und Patchworkfamilien gibt –der Kleinfamilienhaushalt bildet immer noch den Grundstock des Wohnens.

Warum ist dieses Modell so langlebig?

Die Kleinfamilie mit Vater, Mutter, Kindern ist eine kalkulierbare Einheit für die Gesellschaft und die Gesellschaftspolitik. Außerdem muss man bedenken, dass der Familienhaushalt der Kern des privaten Warenkonsums ist. Es gibt also auch ein ökonomisches Interesse an diesem Lebens- und Wohnmodell. Je ausdifferenzierter das alles wird, mit Kinderzimmern für Jungen und Mädchen, mit Jugendzimmern, Wohnzimmern und Esszimmern, desto mehr Objekte kann ich an den Mann oder an die Frau bringen.

Vielleicht entspricht diese bürgerliche Privatsphäre einfach einem menschlichen Bedürfnis.

Stimmt, es ist wichtig, dass wir nicht immer auf die anderen zeigen: DIE wollen so leben. Auch ich komme abends manchmal nach Hause und sage: Puh, bin ich froh, dass ich die Tür hinter mir zumachen kann. Gleichzeitig kann ich aber Kritik üben, weil ich weiß, dass diese Wohnform gekoppelt ist an bestimmte Vorstellungen, die ich ablehne.

Welche sind das?

Nehmen wir ein aktuelles Beispiel: Alexa, den häuslichen Sprachassistenten von Amazon. Da schleichen sich im Hype der Digitalisierung unserer Wohnungen durch die Hintertür wieder ganz alte Geschlechtervorstellungen ein: Alexa hat die Stimme einer jungen Frau, die mit ihrer freundlichen Hilfsbereitschaft ganz dem traditionellen Bild der Hausfrau entspricht – der Hausfrau, die früher vollständig von ihrem Ehemann abhängig und häuslicher Gewalt schutzlos ausgeliefert war. Und leider ist das immer noch aktuell. Trotz aller Fortschritte bei der Gleichberechtigung ist häusliche Gewalt weiter ein Problem. Und immer noch erledigen die Frauen den Großteil der unbezahlten Hausarbeit: Essen machen, Angehörige pflegen, da sein, wenn jemand krank ist.

Auch wenn das Wohnmodell der Kleinfamilie von großer Beständigkeit ist: Unterliegt es nicht dennoch einem steten Wandel, wie Menschen wohnen wollen?

Ich sehe wirklich nicht, dass sich so wahnsinnig viel verändert hat. Aber es gibt natürlich Trends und Zeitströmungen. Zum Beispiel dieses große Es-sich-gemütlich-Machen und die Lounge-Kultur, die mit ihren Möbeln zum Reinfläzen fast schon an die Liegewiesen der 1970er-Jahre erinnert. Interessant ist, dass das in den öffentlichen Raum der Städte einsickert – wie man etwa an den Möbeln in Bars und Kaffeehäusern sehen kann.

Auch Hygge, die skandinavische Form der großen Gemütlichkeit, liegt voll im Trend.

Ich halte das für eine Reaktion auf eine neoliberale Gesellschaft, in der Arbeitsverhältnisse unsicherer und staatliche Sozialleistungen abgebaut werden. Wo Globalisierung und Zuwanderung den Menschen Verlustängste bereiten. Darauf wird mit Entspannungsfantasien reagiert. Die sind wie eine Art Schutzmantel.

„Wohnkonzepte, die an einer größeren Gemeinschaft orientiert sind, können Menschen hervorbringen, die ein bewussteres Verhältnis zur Gesellschaft haben“

Auf der anderen Seite dringt die neue Arbeitswelt durch digitale Erreichbarkeit und Homeoffice verstärkt in unser privates Wohnumfeld ein. Wie wirkt sich das aus?

Ich sehe nicht, dass die Arbeit hereinkommt und das Private verschwindet. Vielmehr dehnen sich das Öffentliche und das Private auf unterschiedliche Weise aus und durchdringen einander – wie man auch an den Lounge-Möbeln im öffentlichen Raum sieht. Was dabei herauskommt, ist aber auch nicht völlig neu. Die Frauen haben immer schon sehr viel Arbeit zu Hause erledigt: unbezahlte häusliche Arbeit und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zum Teil auch Lohnstückarbeit, zum Beispiel für die Textilbranche. Und für die unteren sozialen Schichten gab es so etwas wie eine geschützte Privat- und Intimsphäre ohnehin lange Zeit nicht. Das hat sich erst im Laufe des 20.Jahrhunderts entwickelt.

Wie war es davor?

Das kleinfamiliäre Wohnen ist aus der bürgerlichen Familie entstanden, die sich bis Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt hat und dann zunehmend als Modell auf die proletarischen Schichten ausgedehnt wurde. Vorher hatten dort viele Generationen auf engstem Raum zusammengelebt. Oft gab es für alle gemeinsam gerade mal eine Küche und ein Schlafzimmer. Die heutigen Normen von Wohnen und Privatsphäre galten da natürlich nicht. Es ist zum Beispiel kein universelles Gesetz, dass wir uns bei der Körperhygiene einschließen und uns dabei anderen lieber nicht zeigen. Im beengten proletarischen Wohnen holte man sich seinen Eimer Wasser in die Küche, um sich dort zu waschen – vor den Augen der anderen.

Ist es ein Gewinn an Lebensqualität, wenn Menschen mehr Privatsphäre haben?

Selbstverständlich müssen Menschen sanitäre Anlagen haben, in denen sie ungestört und sicher Körperpflege betreiben können. Aber schon im Zuge der sozialen Bewegungen der 1920er-Jahre, als es um die staatliche Wohnbauförderung ging, gab es Kritik: Ein weitgehender Rückzug ins Private entpolitisiere die Leute. Ich will mich nicht festlegen, ob das immer zwingend so sein muss. Aber es spricht durchaus etwas dafür, dass Wohnkonzepte, die an einer größeren Form von Gemeinschaft orientiert sind, auch Menschen anziehen und hervorbringen, die ein bewussteres Verhältnis zur Gesellschaft haben. Auch damals gab es ja schon Konzepte wie Einküchenhäuser, die sich aber nicht durchgesetzt haben.

„Wohnen wird heute zu sehr als Ware behandelt“

Wird heute ausreichend berücksichtigt, dass es sich beim Wohnen um ein wichtiges gesellschaftliches Gut handelt?

Wohnen wird meines Erachtens heute zu sehr als Ware behandelt. Erst neuerdings setzt wieder ein Umdenken ein. Vorher gab es in Deutschland lange eine Politik, in deren Rahmen viel ehemals sozialer Wohnungsbau an große Wohnunternehmen verkauft wurde – weshalb heute in vielen großen Städten bezahlbarer Wohnraum fehlt. Auch das genossenschaftliche Modell hat man nicht mehr genug gefördert. Es gab zwar immer tolle Einzelobjekte, aber nicht die nötige Masse.

Foto: Sybille Bergemann / Ostkreuz

Innovative gemeinschaftliche Ansätze wie Baugruppen und Soli-WGs sind solche Modelle, entstehen aber eher durch private Initiativen.

Aber organisiert werden sie oft genossenschaftlich. Ich selbst wohne, wenn ich in Wien bin, in so einem Wohnprojekt. Ich bezweifle, dass solche Modelle heute genug vom Staat gefördert werden, dafür muss von sozialen Bewegungen gekämpft werden. Politiker, die ein soziales Anliegen haben, sollten das unterstützen. Wobei immer zu bedenken ist, dass diese Konzepte sehr oft in bestimmten sozialen Milieus entstehen, einer kulturellen Wissenselite, die über die nötigen Mittel verfügt und eben weiß, wie man das überhaupt anstellt. Aber auch die anderen Milieus müssen mitbedacht werden, auch denen müssen Angebote gemacht werden.

Was können wir eigentlich von anderen Wohnkulturen der Welt lernen?

Der Blick in die große, weite Wohnwelt ist nicht automatisch horizonterweiternd. Das globalisierte Mittelschichtswohnen sieht inzwischen fast überall aus wie bei IKEA. Traditionelle Wohnkulturen existieren natürlich auch noch, aber die solltenwir nicht romantisieren. Was kann ich aus einer mongolischen Jurte lernen? Auf den ersten Blick nur, dass man eben auch ganz anders wohnen kann. Wirklich etwas erfahren würde ich nur, wenn ich es mal selbst ausprobiere. Aufgrund der Zuwanderung kann ich mir andere Wohnkulturen aber auch im eigenen Land ansehen. Da könnten wir offen und nicht so wertend sein. Zum Beispiel wenn es um ornamentreiche Einrichtungen geht, die in den verschiedenen orientalischen Kulturen beliebt sind – während hier in Mitteleuropa, sehr allgemein gesprochen, das Diktum des Klaren und Reduzierten vorherrscht.

Irene Nierhaus ist Professorin der Uni Bremen und leitet das Mariann Steegmann Instituts. Sie stammt aus einer Stadt, die für sozialen Wohnungsbau berühmt ist: Wien. (Foto: privat)

Gerade auf Instagram werden ja heute viel private Wohnumgebungen präsentiert. Was lässt sich aus diesen Wohnbildern schließen?

Die Bilder zeigen durchkomponierte Arrangements, die in ihrem Aufbau und ihrer Ästhetik in der Kontinuität von Wohnzeitschriften stehen. Nur dass heute die Bewohner selber Autoren ihrer Homestorys sind. Gezeigt werden abermals sehr geschönte Bilder des Wohnens: Man sieht keinen Staub, kein ungespültes Geschirr und keine Hausarbeit. Auch das Konflikthafte von Zusammenleben und Arbeitsteilung wird nicht thematisiert. Das verkennt natürlich viele Realitäten. Etwa auch die des prekären und beengten Wohnens, steigender Mietpreise und der Gentrifizierung. Oftmals ist auch nicht auszumachen, wer noch bloggt oder schon verkauft. Es dominiert die Warenförmigkeit des Wohnens über das Wohnen als ein politisches und gesellschaftliches Feld

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