Frühmorgens am 4. Juni 1989 hat die Hoffnung vieler chinesischer Studenten ein jähes Ende. Nachdem sie wochenlang für Demokratie und Meinungsfreiheit demonstriert und auf dem Platz des Himmlischen Friedens (Tian’anmen) in Peking ein Protestcamp errichtet hatten, setzt die chinesische Regierung nun Soldaten ein. Mit Schlagstöcken und mit scharfer Munition gehen sie gegen die Studenten und andere Demonstranten vor. Zahlreiche Menschen werden verletzt, viele sterben. Die genaue Zahl der Toten – waren es Hunderte? Tausende? – bleibt umstritten.
Heute setzt die chinesische Führung künstliche Intelligenz ein, um regierungskritische BürgerInnen zum Schweigen zu bringen
Ihren Anfang nahm die Demokratiebewegung rund sieben Wochen zuvor. Nach dem Tod des ehemaligen Generalsekretärs der Kommunistischen Partei Chinas, Hu Yaobang, am 15. April versammelten sich die Studenten zahlreicher Universitäten zu Trauerkundgebungen. Hu Yaobang hatte Anfang 1987 zurücktreten müssen, weil er als Reformer galt, der das Land demokratischer machen wollte und die Studentenproteste im Winter 1986/1987 für förderlich hielt. Bereits damals gingen junge Chinesen für mehr Mitsprache des Volkes auf die Straße. In dieser Tradition stellten die Demonstranten 1989 erneut politische Forderungen. Nach Mitbestimmung und dem Recht auf freie Meinungsäußerung etwa, aber auch für eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage. Hunderttausende Bürger unterstützten die Studenten in den folgenden Wochen.
Doch zu einer Einigung mit dem Staat kam es nicht. Am Abend des 3. Juni begann die Regierung, die Demonstrationen gewaltsam niederzuschlagen: Ein Panzerwagen zerstörte noch in derselben Nacht das Symbol der Bewegung, die „Göttin der Demokratie“ – eine Statue, die Kunststudenten nach dem Vorbild der New Yorker Freiheitsstatue auf dem Platz des Himmlischen Friedens errichtet hatten.
Ein offizielles Gedenken an das Tian’anmen-Massaker ...
Doch ihr Sturz war nur der Anfang. Vermeintliche oder tatsächliche Anführer der Studenten wurden gesucht und zu Tausenden ins Gefängnis gesteckt. Es folgten Folterungen und Todesurteile – ohne angemessenen Rechtsbeistand für die Angeklagten.
Bis heute versucht die chinesische Führung, alle Erinnerung an die Proteste auszulöschen. In den Schulen wird das Massaker nicht thematisiert. Zeitungen und das Fernsehen dürfen nicht darüber berichten, Demonstrationen oder Mahnwachen sind verboten. Und auch das Internet wird zensiert: Auf Weibo etwa, der chinesischen Version von Twitter, sind rund um den Jahrestag zahlreiche Begriffe gesperrt. Selbst Posts, die so harmlose Worte wie „heute“ oder „morgen“ enthalten, wurden am 25. Jahrestag der Proteste gelöscht.
... ist in China auch 2018 noch undenkbar. Aktuell werden Medien so starkt zensiert wie seit 30 Jahren nicht mehr
Damit sich solche aus ihrer Sicht unerwünschten Proteste nicht wiederholen, setzt die chinesische Führung seit 1989 auf eine Doppelstrategie: Einerseits brachten Reformen ein rasantes Wirtschaftswachstum. Den meisten Chinesen geht es heute finanziell viel besser als vor 30 Jahren. Andererseits sorgt die Regierung für eine noch striktere politische Kontrolle. Nicht nur die Zensur klassischer und sozialer Medien zeugt davon, sondern auch die bereits begonnene Einführung eines Überwachungssystems, das die Handlungen aller Chinesen jederzeit bewerten soll.
Für den Moment scheint die Strategie der Regierung aufzugehen. Doch sollte das Wirtschaftswachstum einmal nachlassen, könnte die Unzufriedenheit rasch wieder zunehmen. Und ohne die Möglichkeit, Unmut öffentlich zu äußern, könnte die Situation vielleicht wieder hochkochen. So wie schon einmal, im Frühjahr 1989.
Illustration: Enrico Nagel