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„Das waren 56 Jahre Diktatur“

Welche Spuren hat die DDR bei denen hinterlassen, die nach der Wende in Ostdeutschland aufgewachsen sind? Das fragt Anne Rabe in ihrem neuen Roman

  • 6 Min.
DDR, Kindheit

Als die Mauer fällt, ist Stine, die Protagonistin in Anne Rabes Roman „Die Möglichkeit von Glück“, drei Jahre alt. Die Spuren, die die DDR in ihrer Familie hinterlassen hat, überschatten ihre Kindheit und Jugend. Als Stine älter wird, will sie das Schweigen in der Familie brechen: Woher kommt all die Gewalt, die ihr Leben und das ihrer Freund*innen dominiert?

fluter.de: In deinem Roman erzählst du von einer jungen Frau, die als Kind der Wende in Ostdeutschland aufwächst und sich gezwungen sieht, die DDR-Vergangenheit ihrer Familie aufzuarbeiten. Wie bist du darauf gekommen?

Anne Rabe: Ich beschäftige mich schon lange mit der DDR. Ausschlaggebend für das Buch waren aber die Wahlen 2019 in Thüringen, als es eine Zeit lang so aussah, als hätte die AfD Chancen, stärkste Kraft zu werden. Die Debatte darüber, warum dort so viele Menschen rechts gewählt hatten, drehte sich wie so häufig um dieselben Themen: die Treuhand, der Wegzug der jungen Leute und so weiter. Das sind die immer gleichen Erklärungsmuster. Es wird viel weniger darauf geschaut, was im Osten eigentlich vor 1990 passiert ist. Woher kommen die rechten Strukturen überhaupt?

Wenn es, wie du sagst, eine Kontinuität rechter Strukturen in Ostdeutschland gibt, warum wird das dort nicht stärker adressiert?

Das liegt an den autoritären Strukturen der DDR. Sie stehen in einer nationalistischen Tradition, die nicht aufgearbeitet wurde. Erst langsam hören wir von den Erfahrungen von zum Beispiel Schwarzen Menschen im Osten. Die wurden teils katastrophal behandelt. Man muss sich klarmachen, dass es im Osten zuerst den Nationalsozialismus gab, dann die sowjetische Besatzungszeit, in der viel Unrecht und Gewalt passiert ist, dann die DDR. Das waren insgesamt 56 Jahre Diktatur. Drei Generationen, die gar nicht erst gelernt haben, miteinander zu sprechen.

„Einige von meinen Freunden haben nie mit ihren Eltern gesprochen, keine Nachfragen gestellt und die DDR überhaupt nicht reflektiert“

Du bist genau wie deine Protagonistin Stine Mitte der Achtzigerjahre in Ostdeutschland geboren und dort aufgewachsen. Wie hat die Wende deine Kindheit geprägt?

Ich konnte die Wende als Kindergartenkind zwar noch nicht politisch einordnen, aber die Erfahrung, dass die eigenen Eltern aus der Bahn geworfen sind, war für viele meiner Generation prägend. In der Zeit danach hatte Massenarbeitslosigkeit eine große Selbstverständlichkeit. Ich kenne niemanden, dessen Eltern nicht mal arbeitslos waren. Meine Schulzeit war dominiert von autoritären Strukturen und Gewalt. Das begann bei Methoden der schwarzen Pädagogik in den Elternhäusern, die darauf ausgerichtet war, den Willen der Kinder zu brechen. Und es ging in der Schule weiter, wo Schwächere regelmäßig von Lehrern gedemütigt wurden und die so natürlich auch ihren Mitschüler*innen als perfekte Opfer präsentiert wurden, die dann wiederum ihre eigene Wut ungehemmt an diesen Kindern ausließen. Im Roman haben ich versucht, diese Mechanik aufzuschlüsseln.

„Die Möglichkeit von Glück“ ist bei Klett-Cotta erschienen

Du hast für die Recherche mit alten Schulfreund*innen gesprochen.

Das Thema Gewalt war bei allen sehr präsent. Viele hatten wie ich nie darüber gesprochen. Das Wissen in den Familien und die Betrachtungen der DDR-Zeit unterscheiden sich aber natürlich. Je nachdem, ob man eher aus einer oppositionellen Familie kam, aus dem Kirchenkreis oder eben aus einem SED-Haushalt. Einige von meinen Freund*innen haben nie mit ihren Eltern gesprochen, keine Nachfragen gestellt und die Zeit überhaupt nicht reflektiert.

Untersuchungen wie die Leipziger Autoritarismus-Studie haben gezeigt, dass verstärkt Menschen deiner Generation im Osten rechts eingestellt sind. Woran liegt das?

Es gibt im Osten eine Normalität von Rechtssein, die sich von den meisten westdeutschen Gegenden unterscheidet. Die AfD liegt bei Umfragen in Sachsen bei etwa 30 Prozent. Das wäre gegenwärtig ein Traumergebnis für jede demokratische Partei. So zu wählen wird von vielen im Osten nicht verachtet, sondern gesellschaftlich anerkannt. Dazu kommt eine Ostalgiewelle, gerade bei den noch Jüngeren, die die DDR selbst gar nicht mehr erlebt haben.

Ist es so schwierig, die rechten Strukturen zu thematisieren und aufzuarbeiten?

Im SED-Regime wurde die Aufarbeitung der Nazidiktatur ideologisch vereinnahmt. In meinem Buch findet die Hauptfigur einen Brief, in dem sich ihr Großvater für seine Vergangenheit rechtfertigen muss. Er muss alles aufzählen, bis zur NSDAP-Mitgliedschaft seines Bruders, der gar nicht in der DDR lebte. Es war klar, dass die Nazizeit in der DDR immer ausreichen konnte, um einem das Genick zu brechen. Der Staat bestimmte, wie etwas zu deuten war. Das heißt, die Menschen konnten nicht über ihre Kriegserfahrungen in der sogenannten faschistischen Wehrmacht sprechen. Das Regime hat die Aufarbeitung unterbunden und damit auch den Umgang mit der Geschichte. Es gab keine Institutionalisierung der Aufarbeitung, keinen Bruch mit der Elterngeneration und auch keine Emanzipationsbewegung wie etwa in Westdeutschland.

„Es gibt keine Integration der DDR-Geschichte in das gesamtdeutsche Bewusstsein. Ich finde das falsch“

Stine hat zu Beginn Probleme damit, sich mit den möglichen Verbrechen ihres Großvaters zu beschäftigen.

Wo fängt man auch an, wenn man in einer Gesellschaft voller Schweigen aufwächst? Sie hat zwar eine Ahnung, dass etwas nicht ganz richtig ist, und plötzlich fallen ihr Sätze ihres Großvaters ein, zum Beispiel über die Toten an der Berliner Mauer. Der Großvater war im Zweiten Weltkrieg an der Front und wollte nie wieder Krieg. Das war für ihn Grund genug, dass Menschen erschossen werden durften, die aus der DDR fliehen wollten. Gleichzeitig hat Stine mit dem zunehmenden Wissen über das DDR-System Angst, dass ihre Familie verstrickt sein könnte und was das dann für sie bedeuten würde. Gerade im Verhältnis zu ihrem Großvater, den sie sehr geliebt hat.

Wann gibt man sich mit dem Schweigen nicht mehr zufrieden?

In dem Moment, in dem man anfängt, sich damit zu beschäftigen. Ich kenne auch Leute, die sich nicht damit auseinandersetzen wollen – auch weil sie Angst davor haben, was sie herausfinden könnten. Es könnte zum Beispiel bedeuten, einsehen zu müssen, dass die eigene Familie zu den Privilegierten des DDR-Systems gehörte und man als Kind davon profitierte. Was uns Nachwendekindern heute häufig fehlt, ist die Reflexion der eigenen Position. Das ist kein Vorwurf im Sinne einer Schuld. Meine Generation hat keine Schuld auf sich geladen. Aber man wird sich mancher Dinge anders bewusst: Nicht alle hatten in diesem System denselben Stand, und nicht alle hatten nach der Wende dieselben Startvoraussetzungen.

Was könnte die Aufarbeitung vorantreiben?

Man könnte die Geschichtsbücher überarbeiten. Also nicht nur eine Doppelseite DDR und auf der nächsten Seite die Frage, ob die DDR ein Unrechtsstaat gewesen ist oder nicht. Es muss viel mehr Basiswissen vermittelt werden. Zum Beispiel finde ich es wichtig, dass alle wissen, was ein Jugendwerkhof in der DDR war. In dem Haus, in dem ich auf meine ersten Partys gegangen bin, wurden früher Jugendliche misshandelt. Darüber wird nicht gesprochen. Es gibt keine Integration der DDR-Geschichte in das gesamtdeutsche Bewusstsein. Ich finde das falsch, weil wir ein Land sind und die Ereignisse von damals bis heute Auswirkungen haben. Wenn wir politische Kontinuitäten durchbrechen wollen, brauchen wir eine Aufarbeitung der DDR, der einzelnen Familiengeschichten, aber auch der eigenen Position. Das ist eine gesamtdeutsche Aufgabe.

Anne Rabe, 1986 in Wismar an der Ostsee geboren, arbeitet als Essayistin, Schriftstellerin und Drehbuchautorin. (Foto: Annette Hauschild)

Titelbild: Harald Hauswald/OSTKREUZ

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