Thema – Identität

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Welche DDR?

Viele Ostdeutsche fühlen sich heute als „Bürger zweiter Klasse“. Erklärt das, warum es in den neuen Bundesländern häufiger zu Übergriffen auf Migranten kommt?

Die Bilder der bis zu 8.000 Rechtsextremen und Rechtspopulisten in den Straßen von Chemnitz gingen im vergangenen September um die Welt. Nach dem Mord an einem jungen Chemnitzer demonstrierten an mehreren Tagen Tausende Menschen, darunter auch gewaltbereite Neonazis und Hooligans. Ein rechter Mob stachelte zur Jagd auf Migranten an.

Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind ein bundesweites Problem. Aber ostdeutsche Bundesländer sind in Relation zur Einwohnerzahl traurige Spitzenreiter: Hier werden mehr Straftaten gegen Geflüchtete verübt; in Sachsen konnte der rechtsextreme NSU untertauchen; seit 2014 skandieren in Dresden die Pegida-Demonstranten wöchentlich ihre rassistischen und antimuslimischen Parolen.

„Integriert doch erst mal uns“

Eine Woche nach den Chemnitzer Ausschreitungen veröffentlichte die sächsische Integrationsministerin Petra Köpping ihr Buch „Integriert doch erst mal uns“. Diesen Satz hatten ihr Pegida-Demonstranten in Dresden zugerufen. Er machte sie stutzig.

94 Prozent der DDR-Unternehmen gehörten nach der Wende Westdeutschen oder Ausländern

Zwei Jahre lang reiste sie durch Sachsen und sprach mit den Menschen. Schnell wurde ihr klar: Es geht vielen von ihnen nicht in erster Linie um Hass oder die Angst vor Geflüchteten. Es geht auch um den Konflikt Ost gegen West. „Fast alle Gespräche endeten mit den persönlichen Erlebnissen der Menschen während der Nachwendezeit“, schreibt sie in ihrem Buch. Dass sie beispielsweise heute zu wenig Rente bekommen oder auf Zulagen, die ihnen im Rentensystem der DDR zugestanden hätten, im wiedervereinigten Deutschland verzichten müssen.

„Sie fühlen sich als die Generation, die den Osten für Gesamtdeutschland aufgebaut hat. Und dann sind knapp 30 Jahre vergangen, und sie bekommen ihre Rentenbescheide in die Hand. Und erhalten nicht selten eine Rente, von der sie nicht leben können“, sagte Köpping im Interview mit dem Fernsehsender Arte.

Zwei von drei Sachsen gaben im Januar letzten Jahres in einer Umfrage an, sich heute als „Bürger zweiter Klasse“ zu fühlen. Es finden sich viele Zahlen aus dem Wirtschaftsbereich, die das Gefühl der ostdeutschen Befragten untermauern:

„Ostdeutsche wurden systematisch in die zweite, dritte oder vierte Reihe gespült“

Viele der ehemaligen DDR-Bürger hatten nach der Wende das Gefühl: Die Westdeutschen müssen sich nur an neue Postleitzahlen und neue Ampelmännchen gewöhnen. Für sie selbst, die Ostdeutschen, änderte sich hingegen nahezu jeder gesellschaftliche Lebensbereich. Oft ging es um die Existenz: Zwischen 1989 und 1991 verloren mehr als 2,5 Millionen Menschen ihre Arbeit. Bei einer niedrigen Produktivitätsrate hatte in der DDR offiziell Vollbeschäftigung geherrscht, Arbeitslosigkeit wurde verdeckt. Drei Jahre nach dem Mauerfall existierten 40 Prozent der Arbeitsplätze nicht mehr. Ostdeutsche Eliten wurden durch neue Führungskräfte aus dem Westen ausgetauscht.

Montagsdemonstration (gegen Hartz IV), Magdeburg, Sachsen-Anhalt, August 2004 ( Foto: Maurice Weiss/OSTKREUZ ) (Foto: Maurice Weiss/OSTKREUZ)

Reality Check: nach der Wende mussten sich die DDR-Bürger an weniger soziale Sicherheit gewöhnen. So wohl auch diese beiden Magdeburger, die im Jahr 2004 gegen die Hartz-IV-Reformen demonstrierten

(Foto: Maurice Weiss/OSTKREUZ)
 

Der Soziologe Raj Kollmorgen arbeitete zu Wendezeiten an der Universität in Jena. „Westdeutsche Kollegen und Kolleginnen wurden zu Beratungszwecken an die Universitäten in die neuen Bundesländer geschickt. Aber das mündete schnell in Belehrung“, erzählt er. Nicht nur in den Hochschulen wurden Ostdeutsche systematisch in die zweite, dritte oder vierte Reihe gespült.

„Berufliche Erfahrungen ostdeutscher Bürger sind radikal entwertet worden. Das war für viele eine Ohnmachtserfahrung. Man kam in eine Situation, als wäre man wieder 18 oder 20 Jahre alt und würde sich noch mal auf eine Ausbildung bewerben“, sagt Kollmorgen. „Es war ein stetiger Kampf um Anerkennung.“

„Wenn ich mich anerkannt fühle, bin ich eher in der Lage, andere anzuerkennen“

Wilhelm Heitmeyer ist Soziologe. Er untersucht seit mehr als 15 Jahren, wie sich in Deutschland die Vorurteile gegenüber Minderheiten entwickeln – und hat einen wichtigen Begriff geprägt: die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Darunter versteht er abwertende Einstellungen gegenüber Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe.

Den letzten Erhebungen zufolge sind Fremdenfeindlichkeit, Muslimfeindlichkeit, die Abwertung von Sinti und Roma, asylsuchenden und wohnungslosen Menschen im Osten stärker ausgeprägt.

In vielen ostdeutschen Dörfern und Kleinstädten ist der Druck groß, einer Norm zu entsprechen

Heitmeyer hat dafür verschiedene Erklärungsansätze: Die meisten Ostdeutschen leben in Dörfern und Kleinstädten, wo ein hohes Maß an sozialer Homogenität und Konformitätsdruck herrsche. 

Gleichzeitig seien durch die Transformationsprozesse nach der Wende viele Menschen von einem „Individualisierungs-Aufprall“ betroffen gewesen. In der DDR hätten sie viel soziale Sicherheit und wenig Freiheit gehabt. Angekommen in der Bundesrepublik, hieß es plötzlich: „Mehr Freiheit, dafür weniger Sicherheit“. Das Gefühl, die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren, mache Menschen anfällig für populistische Einstellungen.

Und zuletzt ist Respekt ein Grund für die stärker verbreitete gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit: „Kein Mensch kann ohne Anerkennung leben. Wenn ich mich anerkannt fühle, bin ich eher in der Lage, andere anzuerkennen.“ Das heißt im Umkehrschluss: „Wer sich benachteiligt fühlt, wehrt andere ab, um sich selbst aufzuwerten“, so Heitmeyer.

„Die Nachwendezeit muss wieder auf den Tisch!“

Der Blick in die Welt zeigt: Das trifft nicht nur auf Ostdeutschland zu. Fehlende Anerkennung kann ein guter Nährboden für Populismus und Rassismus sein – wenn auch nicht der alleinige. So war auch ein spezieller Wählertypus am Brexit oder an der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten beteiligt: Menschen aus Regionen, die negativ von der Globalisierung betroffen sind; die sich den wirtschaftlichen Umbrüchen nicht gewachsen fühlen; die zusehen mussten, wie ihre Arbeitsplätze innerhalb weniger Jahrzehnte verschwanden. Und damit die Anerkennung für die eigenen Lebensleistungen.

Wer wenig Respekt und Anerkennung erfährt, neigt zu rassistischen und populistischen Einstellungen. Diese Formel ist sicher zu knapp, um menschenverachtende Abwertungen gänzlich zu erklären. Sie ist aber ein wichtiges Puzzleteil. 

Petra Köpping, die sächsische Integrationsministerin, forderte vor zwei Jahren: „Die Nachwendezeit muss wieder auf den Tisch!“ Im kommenden Herbst feiert die friedliche Revolution ihren 30. Geburtstag. Bei den Festakten wird auch über den Respekt für die Ostdeutschen gesprochen werden. Eine Debatte über die 90er-Jahre, über den Umgang Westdeutscher mit Ostdeutschen, täte Deutschlands Demokratie, gerade in Zeiten eines zunehmenden Rechtsrucks, gut.

Titelbild: Cigdem Ucuncu/NarPhotos/laif

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