Thema – Klimawandel

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Jetzt gibt’s ’ne Shelle

Firmen, die zu wenig für das Klima tun, werden immer häufiger von NGOs verklagt. Dabei geht es auch darum, ob man kommende Generationen heute vor Gericht vertreten kann

Menschen protestieren vor dem Shell-Firmensitz mit einem Shell-Logo, das den Stinkefinger zeigt

Ende Mai 2021 im Den Haager Bezirksgericht. Die Anwält:innen der niederländischen Umweltorganisation Milieudefensie können es kaum fassen – sie haben gewonnen. Der milliardenschwere Mineralöl- und Erdgaskonzern Shell muss seine CO₂-Emissionen kürzen. Und nicht nur ein bisschen, sondern bis 2030 um 45 Prozent gegenüber dem Stand von 2019.

Das Urteil war eine Überraschung. Seit 2018 hatten die Anwält:innen von Milieudefensie die Klage vorbereitet. Shell solle seine Geschäftspläne an den Zielen des Pariser Klimaabkommens ausrichten, so ihre Forderung. Milieudefensie selbst ließ nach dem Urteil verlauten, dass die Klage vor allem das Ziel hatte, Shells Geschäftspraktiken bekannt zu machen, und dass sie nicht mit einem Sieg gerechnet hatten.

Wie wirksam die Entscheidung des Gerichts ist, muss sich aber ohnehin noch zeigen. Shell ist in Berufung gegangen, und ob das Urteil in zweiter Instanz Bestand haben wird, ist alles andere als sicher: Shell argumentiert unter anderem, es sei nicht gerecht, als einziges Unternehmen herausgegriffen zu werden, und dass es keine gesetzliche Grundlage dafür gäbe, dass Gerichte gegen Privatunternehmen in Sachen Klimaschutz urteilen dürfen.

Mehr als 500 Klimaklagen gab es seit 2020

Anfang 2022 hat Shell seinen Firmensitz komplett nach London verlegt, davor war das Unternehmen sowohl in Großbritannien als auch in den Niederlanden ansässig. Dieser Umzug verkompliziert den Vollzug des Den Haager Urteils, weil sich Shell nun außerhalb des Gebiets der niederländischen Jurisdiktion befindet. Ein britisches Gericht müsste das Urteil aus den Niederlanden aufrechterhalten, erklärt die auf Klimagerechtigkeit spezialisierte Juristin Iva Lea Aurer. Alternativ könnten die Niederlande und Großbritannien ein Abkommen vereinbaren, „das das Gerichtsurteil transferiert“, um den Prozess zu vereinfachen. „Das wurde aber durch den Brexit erschwert.“

Und selbst wenn das gelänge, könnte Shell sich immer noch dafür entscheiden, seine Emissionen nicht um 45 Prozent zu reduzieren: Das Unternehmen müsste dann aller Voraussicht nach „lediglich“ Strafzahlungen leisten. Wie hoch die wären? Steht noch gar nicht fest. Gut möglich, dass die Summe nicht hoch genug sein wird, um Shell wirklich zu schaden und zu einer Kursänderung zu bewegen – und die Strafzahlungen müssten auch erst wieder eingeklagt werden.

Trotzdem hat das Den Haager Urteil einen Präzedenzfall geschaffen. Das erste Mal wurde ein multinationales Unternehmen gerichtlich dazu verpflichtet, die Geschäftspläne am Pariser Klimaabkommen auszurichten. Dieses Beispiel macht Schule. 

Donald Pols (Foto: Remko De Waal / EPA-EFE / picture alliance)
Damit hatte keiner gerechnet: Mitglieder der niederländischen NGO Milieudefensie jubeln nach dem Urteil im Frühjahr 2021 (Foto: Remko De Waal / EPA-EFE / picture alliance)

So hat beispielsweise in Deutschland 2021 die Deutsche Umwelthilfe (DUH) gegen Mercedes-Benz, BMW und den Mineralölkonzern DEA geklagt, unter anderem mit der Forderung, dass die Autohersteller bis 2030 die Produktion von Verbrennerneuwagen stoppen sollen. Im Fall von Mercedes hat das Landgericht Stuttgart die Klage im September 2022 abgewiesen, nun zieht die DUH in die nächste Instanz vor das Oberlandesgericht. Gegen einen weiteren deutschen Autohersteller, Volkswagen, hat 2021 der Landwirt Ulf Allhoff-Cramer aus Ostwestfalen-Lippe geklagt, unterstützt von Greenpeace. Durch die Folgen des Klimawandels, an dem die Autos von VW ihren Anteil haben, würden seine Erträge zurückgehen, so Allhoff-Cramer.

In Großbritannien kündigte die Umweltorganisation ClientEarth im März an, gegen Shell juristisch vorgehen zu wollen, weil dessen Umweltstrategie nicht mit dem Pariser Klimaabkommen kompatibel sei. Das Besondere an diesem Fall: ClientEarth klagt nicht gegen das Unternehmen Shell, sondern möchte die Verwaltungsrät:innen persönlich haftbar machen. Momentan wartet ClientEarth noch auf eine Reaktion des Verwaltungsrats. Dabei, so die Juristin Iva Lea Aurer, gebe das Den Haager Urteil dem Fall in Großbritannien sicher Rückenwind – auch wenn das Rechtssystem natürlich ein ganz anderes sei. 

Schützt das Minimum Principle kommende Generationen juristisch vor der Klimakatastrophe?

Ein weiteres Ölunternehmen, das französische TotalEnergies, wurde von sechs NGOs in Frankreich verklagt. Die Kläger argumentieren, dass Total durch ein Ölprojekt in Tansania und Uganda die Menschenrechte der dortigen Bevölkerung und die Umwelt massiv gefährden würde – was sich nicht mit der französischen Sorgfaltspflicht von Unternehmen vereinbaren lässt. Nach einigem juristischen Hickhack um die Frage, welches Gericht eigentlich zuständig ist, ist der Fall seit Dezember 2021 vor dem Gerichtshof in Nanterre hängig.

Laut dem britischen Thinktank Chatham House wurden zwischen 2020 und 2022 weltweit über 500 Klimaklagen eingereicht. Sie richten sich gegen Unternehmen wie Shell, aber auch gegen Regierungen. Auch hier waren die Niederlande Vorreiter: Im Jahr 2015 verurteilte dasselbe Den Haager Bezirksgericht die niederländische Regierung dazu, ihre Treibhausgasemissionen bis Ende 2020 auf mindestens ein Viertel weniger als den Wert von 1990 zu reduzieren – ein bis dahin auf der Welt einmaliger Vorgang.

Geklagt hatte die Urgenda-Stiftung, eine NGO, die gesammelt die Interessen von rund 900 Niederländer:innen repräsentiert. Nach zwei Berufungsklagen bestätigte der Höchste Gerichtshof der Niederlande 2019 das Urteil, welches damit ein historischer Sieg für Klimagerechtigkeit wurde. Die Urgenda-Anwält:innen argumentierten, dass die Menschenrechte von jetzigen und die Fairness gegenüber zukünftigen niederländischen Bürger:innen in Gefahr wären, falls die Niederlande ihre Minimalziele im Klimaschutz nicht erreichen würden.

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Eine entscheidende Rolle könnte hierbei – und bei zukünftigen Urteilen – ein Begriff spielen, der in den letzten Jahren in der Rechtstheorie neu aufgekommen ist: das Minimum Principle. Dahinter steht die Überzeugung, dass auch kommende Generationen juristisch repräsentiert werden können, um vorausschauend ihr Grundrecht auf ein gutes Leben zu schützen.

Doch dabei gibt es einige Probleme, wie Laura Burgers, Forscherin am Zentrum für transformatives Privatrecht in Amsterdam, erklärt. Zum einen das sogenannte Pluralitätsproblem: „Kommende Generationen werden, so wie die heutige auch, plurale Gesellschaften mit diversen politischen Ideen formen. Es ist also unmöglich, einen gemeinsamen Standpunkt in ihrem Namen zu formulieren.“ Das zweite Problem sei eine juristische Genauigkeit, genannt das Ermächtigungsproblem – da zukünftige Generationen ja noch nicht da sind, könnten sie auch niemanden dazu ermächtigen, für ihre Rechte und Interessen einzustehen.

Doch könnten aus den Folgen der Klimakrise Menschenrechtsverletzungen resultieren, vor allem gegen das Recht auf Leben und das Recht auf ein Zuhause. Und diese Menschenrechte „garantieren ein absolutes Minimum, welches Menschen brauchen, um als freie Bürger:innen zu leben, wie in Artikel 2 und Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention ausgelegt“, erklärt Burgers. Und dies wiege schwerer als die beiden genannten Probleme.

Sowohl das Den Haager Gericht im Shell-Prozess als auch das Höchste Gericht im Urgenda-Prozess seien dieser Argumentation gefolgt und bestätigten, dass nach dem Minimum Principle weder das Pluralitäts- noch das Ermächtigungsproblem eine Hürde darstelle. Schließlich, so Laura Burgers, werden „zukünftige Generationen das Minimum genauso brauchen wie wir heute“.

Titelbild: Romy Arroyo Fernandez/NurPhoto via Getty Images

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