Seit Donald Trump US-Präsident ist, wird viel über die weiße Unterschicht in den USA gesprochen – den white trash, dessen Vertreter in den rostenden Staaten des Mittleren Westens Trump zum Sieg verholfen haben. Ihre Nöte habe man zu wenig ernst genommen und sich stattdessen zu sehr mit den Problemen gut situierter Zielgruppen aus dem linksliberalen Milieu beschäftigt – also etwa mit Unisextoiletten und politisch korrekter Sprache. So lautet die verkürzte Ferndiagnose.

So recht befriedigend ist das nicht. Denn warum wählen ausgerechnet arbeitslose, sich vom Staat vernachlässigt fühlende Menschen einen Mann, der Politik vor allem für die Reichen macht? Weil er so krasse Sprüche gegen Migranten, Frauen und Europa raushaut? Weil er so tut, als könne er die Jobs, die in der Stahl- und Autoindustrie über Jahrzehnte verloren gingen, wieder zurückholen? Weil die Menschen wirklich glauben, dass Barack Obama Kohleminen geschlossen hat, um die Arbeitsplätze nach China zu verlegen, wie es eine weit verbreitete Verschwörungstheorie der Republikaner nahelegt?

„Meine Mutter war eine echte Multitaskerin. Sie konnte Auto fahren und uns gleichzeitig auf dem Rücksitz schlagen.“

Kann schon alles sein, so das Fazit von J. D. Vance, aber die Frage, die ihn beschäftigt, ist eher die nach dem Humus, auf dem all diese Ressentiments, der Opferkult und die Verschwörungstheorien wachsen. Und da ist Vance ein echter Experte. Denn er ist kein Soziologe oder Politologe, er ist in einer dieser kaputten Familien aufgewachsen, über die immer geredet wird.

„Meine Mutter war eine echte Multitaskerin. Sie konnte Auto fahren und uns gleichzeitig auf dem Rücksitz schlagen.“ In diesem lakonischen Ton beschreibt Vance seine Kindheit inmitten von Wutausbrüchen, exzessivem Alkoholgenuss und Arbeitslosigkeit.

Viele betäuben sich mit dem „Hillbilly-Heroin“ Oxycodon

Hillbilly“ – der Begriff steht für die sogenannten Hinterwäldler, die einst aus den Appalachen, einem Mittelgebirge im Osten der USA, auf der Suche nach Arbeit in den Mittleren Westen zogen, um dort in den Fabriken der Stahl- und Autoindustrie zu arbeiten, so wie es auch Millionen Schwarze aus den Südstaaten taten. Mittlerweile sind die Fabriken dicht, ganze Großstädte wie Detroit gammeln vor sich hin, und viele der arbeitslosen Menschen betäuben sich mit Opiaten, die von den Ärzten über Jahre hinweg bereitwillig verschrieben wurden, weil es im Rust Belt für viele keine vernünftige Gesundheitsversorgung gibt. Das extrem abhängig machende Schmerzmittel Oxycodon heißt daher auch „Hillbilly-Heroin“.

Vance schreibt voller Zuneigung über seine Familie, aber dennoch schonungslos offen. Wie seine Mutter einen Mann nach dem anderen nach Hause brachte, darunter viele, die zu Gewalt neigten. Wie sie für Drogen noch den Rest ihrer Habe durchbrachte, wie seine Großmutter mit der gezückten Flinte durch die Gegend rannte und einmal sogar seinen Opa auf dem Sofa anzündete, weil sie von dessen Sauftouren genug hatte. Letztlich ist es diese erstaunlich brutale Oma, die Vance rettet und ihn immer wieder auffängt, wenn daheim alles in die Brüche geht.

Schuld sind immer die anderen

Das Buch ist anrührend und lehrreich. Man ahnt, dass die Familienehre unter „Hillbillys“ fast so ein Popanz ist wie bei der Mafia, dass Verwandte mit Waffen gerächt werden, auch wenn sie den Streit selbst angefangen haben. Was dazu führt, dass man gegenüber den eigenen Versäumnissen blind wird. Schuld sind immer die anderen.

Und das ist das große Verdienst des Buches. Dass es einerseits die politischen Fehlentwicklungen aufzeigt, die zum Niedergang eines Teils der USA geführt haben, aber andererseits auch das eigene Verschulden der Betroffenen thematisiert. So erzählt Vance, dass er es immer geschafft habe, irgendwelche Jobs zu bekommen, dass viele seiner Kumpels aber jeden Tag zu spät gekommen seien oder für Stunden in der Pause verschwanden. Als sie dann nach drei Ermahnungen entlassen wurden, hätten sie sich als Opfer gefühlt.

J. D. Vance: „Hillbilly-Elegie: Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise“. Ullstein, Berlin 2017, 304 Seiten, 22 Euro

Vance hat es schließlich sogar zu einem Jurastudium gebracht und ist mittlerweile Investor im Silicon Valley. Er gehört also genau zu jenen Leuten, die die „Hillbillys“ gefressen haben. Jungs mit guten Noten gelten ihnen immer noch als Weicheier oder Schwuchteln. Hoffentlich lesen viele von ihnen sein Buch, denn dann müssen sie ihm verzeihen. Es steckt echte Liebe für diese armen Menschen drin.

Titelbild: Espen Rasmussen/VISUM