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Vom Netz gekommen

Mit einem Hashtag organisierte eine Gruppe tech-affiner junger Frauen vergangenen Herbst eine der größten Protestaktionen Nigerias jüngerer Geschichte. Was ist davon geblieben?

Rinu Oduala

Verschiedenste Menschen in Nigeria protestieren seit langem gegen die ausufernde Polizeigewalt im Land. Schon 2017 wurde eine von Tausenden unterschriebene Petition eingereicht, die eine Auflösung der „Special Anti-Robbery Squad“ (SARS) forderte. Am 3. Oktober 2020 entwickeln die Demonstrationen eine neue Wucht: An diesem Tag zirkuliert ein Video in den sozialen Medien, das einen Polizisten der SARS zeigt, als er einen jungen Mann erschießt. Dann steigt der Beamte in den Lexus-SUV des Verstorbenen und fährt davon.

Mit #EndSARS vom Internet auf die Straße

Sofort trendet der Hashtag #EndSARS auf Twitter, wenig später ziehen Zehntausende Nigerianer:innen überall im Land durch die Straßen und fordern die Auflösung der berüchtigten Truppe. Schnell geht es bei den Protesten um weit mehr als die Brutalität der Polizei. Die Strukturen, die die Willkür ermöglichten, rückten damals in den Fokus, erklärt die 22-jährige Rinu Oduala Ende März über Zoom. Sie ist eine der Organisator:innen der Proteste. „Uns wurde immer eingetrichtert, dass uns niemand zuhören würde, wenn wir für unsere Rechte einstehen. Uns wurde gesagt, wir sollen still sein“, sagt die Chemiestudentin, die in der Metropole Lagos lebt. Neben ihrem Studium arbeitet sie als Influencerin, hat ein Modelabel und nimmt an Onlinekursen in Politikgestaltung teil.

Aufgewachsen in einem der gefährlichsten Viertel der Stadt, gehörten Ungerechtigkeiten und Machtmissbrauch durch Uniformierte zu ihrem Alltag, erzählt Oduala weiter. Korruption sei stets Teil des öffentlichen Lebens gewesen. Oft habe sie Polizisten sogar schießen gesehen. „In so einer Situation bleiben nur zwei Optionen: Entweder du akzeptierst die Unterdrückung, oder du kämpfst dagegen“, sagt sie. Ihre Erzählung erinnert an eine Ansprache auf einer Demonstration – eine, die mitreißt und Mut macht. Ihr Blick ist entschlossen. Für Oduala, das ist schnell klar, ist nur Kämpfen eine Option.

 
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Still sein ist keine Option: Eigentlich ist Rinu Oduala Chemiestudentin. Die Willkür korrupter Polizisten wollte die 22-Jährige aber nicht länger hinnehmen – und zog mit Mitstreiter:innen auf die Straße

Damit ist sie im Oktober nicht allein. Das Video ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Mit dem Hashtag #EndSARS beginnt eine der größten Protestaktionen, die Nigeria seit Beginn seiner Demokratie vor 22 Jahren erlebt hat. „Drei Tage lang hielten wir Mahnwache vor dem Hauptquartier der Polizei. Immer wieder versuchte die Polizei, unsere Gruppe aufzulösen. Sie schossen mit echten Kugeln. Wir dachten, sie würden uns umbringen“, erinnert sich Oduala.

Im ganzen Land sterben im Oktober laut Amnesty International mindestens 56 Protestierende und Menschen, die von der Regierung angeheuert wurden, um die Protestierenden zu konfrontieren. Viele Protestierende landen hinter Gittern, und die Zentralbank lässt die Bankkonten von 20 Organisator:innen für mehrere Wochen einfrieren – darunter auch das von Oduala. Die Bank wirft ihnen vor, Terrorakte zu unterstützen – daher müsse geprüft werden, woher sie ihr Geld bekommen, so die Begründung. Schließlich erreichen die Protestierenden aber einige Teilerfolge: Die Regierung löst die SARS auf und verspricht eine Reform des Polizeiwesens sowie die Einrichtung eines Tribunals für die Entschädigung der Opfer von Polizeigewalt.

Die jungen Menschen kämpfen dezentral, aber gemeinsam – trotz ethnischer Differenzen 

Kurz scheint es, als hätten die Proteste ihr Ziel erreicht. Doch schon Mitte Oktober gehen viele Menschen erneut auf die Straße: Die SARS wird durch eine neue Einheit mit dem Namen „Special Weapons and Tactics Team“ (SWAT) ersetzt. Die Demonstrant:innen vermuten, dass die alte Truppe eine neue Verpackung bekommen hat. 

„Viel ist schiefgegangen, und wir sind skeptisch, dass sich jetzt tatsächlich etwas ändert. Aber trotzdem hat uns EndSARS gezeigt, dass wir sehr stark sein können, wenn wir Jungen uns zusammentun“, sagt Oduala rückblickend. „Die Grenzen unserer Bundesstaaten, unsere Religionen und unsere Stämme trennen uns. Aber die Proteste haben deutlich gemacht, dass wir weiter unsere Rechte gemeinsam einfordern müssen, wenn wir etwas im Land verändern wollen.“

Besonders stolz ist sie darauf, wie bunt die Mischung der Organisationen und Initiator:innen war, die für EndSARS zusammenkamen. Bis zuletzt lehnte es die Bewegung ab, Anführer:innen zu wählen, und setzte stattdessen auf dezentrale Strukturen und die Mobilisierung über die sozialen Medien.

Zwei Dinge hatte ein Großteil der Initiator:innen aber mit der jungen Studentin gemeinsam: Sie waren ebenfalls weiblich und tech-affin. Die Organisation Feminist Coalition etwa zählte zu einer der treibenden Kräfte hinter den Protesten – auch wenn sie offiziell keine Führungsrolle beanspruchte. Das Netzwerk, das 13 junge Frauen im Sommer vergangenen Jahres gründeten, um sich für die Rechte von Frauen einzusetzen, machte die EndSARS-Proteste zu ihrem ersten großen Projekt. Laut eigenen Angaben hat die Feminist Coalition per Crowdfunding umgerechnet über 150.000 Euro gesammelt und damit Masken, Essen und Wasser zur Verfügung gestellt sowie Krankenhausrechnungen für verletzte Demonstrierende beglichen.

Was bleibt von Hashtag und Protest?

Wird die Bewegung die nigerianische Politik nachhaltig prägen? Sa’eed Husaini ist sich da nicht so sicher. Der 29-jährige Wissenschaftler, der zu alternativen Kleinparteien forscht und für das Onlinemedium „Africa is a Country“ schreibt, zeigt sich am Telefon ernüchtert: „EndSARS hat es geschafft, ein Hashtag zum globalen Trend zu machen, aber kann es auch den Polizisten in unserer Nachbarschaft davon abhalten, auf uns zu schießen?“

Auch er hat das Hashtag geteilt, war im Oktober Tag und Nacht auf Lagos Straßen unterwegs – und hoffte, die Proteste würden progressive Bewegungen stärken. Doch so groß die Euphorie anfangs war, so groß war seine Enttäuschung über das Wahlergebnis einer Lokalwahl im Osten von Lagos einen Monat später. Die langjährige Regierungspartei hängte die Opposition erneut meilenweit ab, und nur eine:r von zehn Wahlberechtigten gab seine Stimme ab.

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Auch dieses Jahr wurde demonstriert, wie hier im Mai. Insbesondere junge Frauen engagieren sich

„Die Onlinemobilisierung von EndSARS wurde von der urbanen Jugend und aktiven Social-Media-User:innen getragen“, resümiert er heute. Bislang verstehe es die tech-affine Mittelschicht zwar, Lärm zu machen, doch fehle es noch an realer Macht. Nun gelte es, offline weiter an der politischen Mobilisierung zu arbeiten. „Die Jugend hat gesehen, dass sie zusammen sehr viel anstoßen kann. Doch wenn sie jetzt keine echten Erfolge sieht, kann das ihren Frust verschlimmern“, sagt Husaini.

Statt Kompromisse einzugehen, sorgte die Regierung gemeinsam mit der Zentralbank kürzlich sogar für zusätzlichen Unmut. Sie startete einen Feldzug gegen den Handel mit Kryptowährungen – ein Feld, auf dem Nigeria neben den USA und Russland zu den globalen Spitzenreitern zählt und vor allem die junge Tech-Szene aktiv ist. Laut Angaben der Krypto-Trading-Plattform Paxful werden hier jeden Monat Transaktionen im Wert von rund 65 Millionen US-Dollar gemacht. „Manche sehen den Vorstoß der Zentralbank im Zusammenhang mit EndSARS. Ein Backlash gegen eine zunehmend selbstbewusste Gesellschaftsschicht“, sagt Husaini.

Das Selbstbewusstsein der jüngeren Generation wächst

Dieses wachsende Selbstbewusstsein gibt Rinu Oduala dennoch Hoffnung. „EndSARS hat vielen eine Stimme gegeben“, sagt sie. Das gilt nicht nur für die Krypto-Szene, sondern für die urbane Jugend insgesamt. Viele junge Frauen setzen sich vermehrt für ihre Rechte ein, so Oduala. Sie ist überzeugt, dass der jüngeren Generation gerade klar wird, wie wichtig Frauen in der Politik und der Gestaltung einer Gesellschaft sind. „Wir brauchen mehr Frauen in Regierungspositionen“, fordert die Studentin und Influencerin.

Die Spannung zwischen solchen Forderungen und der Blockadehaltung der Regierung steige währenddessen weiter, sagt Oduala. Die hohe Jugendarbeitslosigkeit, die weit verbreitete Armut, hohe Gender-Ungleichheit und überfüllte Städte – ein Funke könnte reichen, um weitere Proteste zu entfachen. „Unser Engagement hört nicht mit EndSARS auf. In den kommenden Monaten werden sich neue Allianzen gründen, und wir werden entscheiden, wie wir unsere Forderungen weitertragen.“ Sie wird jedenfalls nicht klein beigeben.

Kurzes, aber brisantes, Update: Am vergangenen Freitag ließ Nigerias Regierung den Zugriff auf Twitter im ganzen Land sperren und forderte seine Bürgerinnen und Bürger auf, den Kurznachrichtendienst nicht für Informationszwecke zu nutzen. Präsident Muhammadu Buhari erklärte, auf Twitter würden Fake News und Fehlinformationen verbreitet, die teilweise gewaltsame Konsequenzen für das Land hätten. Viele Nigerianerinnen und Nigerianer twittern derzeit mit Virtual Private Networks (VPN) weiter, um gegen die Twitter-Sperre zu protestieren. 

Fotos: Tamani The Photographer

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