Auf der Suche

Der Angestellte in der Bankfiliale der Zukunft trägt keinen Anzug. Er ist ein Barkeeper. Er hat heute nur zwei Gäste zu bedienen und poliert fleißig die bereits saubere Theke. Was in einer Bank der strapazierfähige gebürstete Teppich, das ist in dieser düsteren Bar ein von verschütteten Bieren klebriger Boden. Hier, im Dunst von kaltem Zigarettenrauch, soll es einen Bitcoin-Automaten geben, der mir ein paar Euros umtauscht, mitten im Berliner Bitcoin-Kiez. Einige Straßenzüge zwischen Kreuzberg und Neukölln nennen sich seit 2010 so. Kleine Sticker an den Schaufenstern zeigen an, dass die Währung akzeptiert wird und man sich am Puls des technologischen Fortschritts befindet. 

Wie fühlt es sich an, Bitcoins in den „Händen zu halten“? Wer sind die Leute, die an die neue Währung glauben?

Da möchte auch ich für ein paar Tage sein. Nicht als Spekulant, sondern als stinknormaler Nutzer. Der Bitcoin ist die mit Abstand bekannteste Kryptowährung und soll als alternatives Zahlungsmittel funktionieren. Warum nicht mal 50 Euro eintauschen und das Smartphone zum Geldbeutel machen? Wie fühlt es sich an, Bitcoins in den „Händen zu halten“? Wer sind die Leute, die an die neue Währung glauben?

Der Kellner in der leeren Bar verpasst mir gleich den nächsten Rückschlag: Der Automat existiert nicht mehr, sagt er. Das deutsche Bankenrecht erlaubte den Betrieb nicht. Sie mussten ihn wieder abbauen. In der Schweiz könne man schon bei der Bahn damit zahlen, in Österreich bekommst du die digitale Währung in jeder Bankfiliale. Ich solle aber in einer Woche wiederkommen. Dann findet hier der Berliner Bitcoin-Stammtisch statt, bei dem mir sicherlich jemand Bargeld eintauschen wird.

Thomas, der Retter 

So lange will ich nicht warten. In einer Internetbörse komme ich selbst ans Ziel. Nachdem mein digitales Bitcoin-Konto mit Kontodaten, Handynummer und E-Mail-Adresse bestätigt wurde, erstehe ich von Thomas H. 0,006318 Bitcoins für 60 Euro. Das sind 63.180 Satoshis, die kleinste Einheit: Was der Cent für den Euro ist, ist der Satoshi für den Bitcoin. Satoshi Nakamoto hat sich damit selbst ein Denkmal gesetzt, obwohl man gar nicht weiß, um wen es sich dabei handelt: Mann, Frau, eine Gruppe von Leuten? Der Bitcoin-Algorithmus wurde jedenfalls 2009 in die Welt entlassen.

Anarchisch sei das neue Zahlungssystem: anonym wie Bargeld und so sicher wie Überweisungen

Im Netz kursierte wenig später eine Mail von Satoshi: „Ich mache jetzt mit anderen Sachen weiter. Er ist in den Händen von Gavin [einem Entwickler] und euch allen gut aufgehoben.“ An seine oder ihre Erfindung glauben mittlerweile viele Menschen. Die Idee, mit einer neuartigen Verschlüsselungstechnologie (= Kryptotechnologie) eine Währung zu schaffen, die keinem Staat, keiner Notenbank gehört, scheint zu überzeugen. Anarchisch sei das neue Zahlungssystem daher, finden seine Anhänger. Auch weil es so anonym wie Bargeld und mindestens so sicher wie Überweisungen sei.

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Bitcoin

Sieht ein bisschen aus wie das Dollarzeichen. Aber damit zahlen? Nein, danke

Bitcoins werden knapper, und die Menschen sind bereit, immer mehr für sie auszugeben. Im Jahr 2130 werden wahrscheinlich alle der auf 21 Millionen limitierten Bitcoins errechnet sein . Bis dahin spuckt der Algorithmus nur noch gut vier Millionen neue Bitcoins aus. So, als wären weltweit alle Goldreserven gefunden. Diesen Vergleich zog Satoshi selbst. Anfang der 1970er-Jahre wurde der Dollar, die Leitwährung des Planeten, vom Goldstandard abgekoppelt. Bis dahin durften Notenbanken nur so viel Geld herausgeben, wie sie Goldreserven besaßen. Jeder Dollar, der im Umlauf war, konnte theoretisch gegen Gold eingetauscht werden. Seit dem Ende des Goldstandards können Notenbanken Geld fast nach Belieben „drucken“. Der Bitcoin soll, so die Vision von Satoshi und seinen Jüngern, der neue globale Goldstandard werden. Dann könnten Politik und Banken nicht mehr frei entscheiden, wie viel Geld sie in Umlauf bringen.

Noch zwei Mal schlafen, bis der Bitcoin-Stammtisch stattfindet und ich echte Bitcoin-Anhänger zu Gesicht bekomme. Um mit Coin-Credibility aufzuwarten, möchte ich in der Lage sein, in der verruchten Kneipe nicht mit Münzen, sondern mit Smartphone und QR-Code zu bezahlen. Stolz über meinen Währungshandel lade ich mir die Wallet-App herunter und starre kontemplativ auf meine persönliche 34-stellige „Kontonummer“. Nun stehe also auch ich, vertreten durch meine 0,006 Bitcoins und die lange Zahlenreihe, in der Blockchain. Das ist die Technologie, auf der das Ganze basiert.

 

Jede Transaktion, die jemals mit der Währung gemacht wurde, wird in ihr gespeichert. Als hätten alle Menschen einen gemeinsamen, unveränderlichen Kontoauszug mit anonymen Kontonummern. Dieser Kontoauszug wird dann auf jedem Rechner, der Teil des Bitcoin-Netzwerks ist, gespeichert. Wenn man in der offenen Datei den eigenen Kontostand verfälscht, ist der richtige Kontostand immer noch auf den vielen tausend anderen Computern, die die Blockchain speichern, fortschreiben und abgleichen, vorhanden. Es ist ein dezentrales Netzwerk, das wie ein riesiger Computer funktioniert, der niemandem gehört – oder besser: allen Nutzern gemeinsam.

Am Eingang des Höllentors

Seit 36 Stunden bin ich Bitcoin-Besitzer, und mein Kontostand ist von 60 auf 80 Euro gestiegen. Zufällig erlebte die Währung in dieser Zeit einen der stärksten Kursgewinne ihrer Geschichte. Der Chef der Royal Bank of Scotland zitiert aus Dantes „Inferno“: Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren! Man solle sich nicht dieser schaumigen Spekulationsblase hingeben. Die Notenbanken sollten jetzt doch bitte Warnungen aussprechen.

In den letzten Atemzügen des Jahres 2017 ist der Bitcoin also die Tulpenzwiebel des 21. Jahrhundert?

Die Zeitungen schreiben vom holländischen Tulpenfieber des 17. Jahrhunderts, als man durch wenige Tulpenzwiebeln zum Millionär wurde. Es war die größte Spekulationsblase des Kapitalismus, weil der Markt und damit die „Tulpomanie“ binnen weniger Tage zusammenbrach. In den letzten Atemzügen des Jahres 2017 ist der Bitcoin also die Tulpenzwiebel des 21. Jahrhundert? Ich denke an holländische Blütenpracht und Dantes „Inferno“, als ich an der Stammtisch-Bar, dem Höllentor, eintreffe. Ein Blick auf meine Wallet verrät mir, dass ich in der letzten Stunde fünf Euro verloren habe. Mehr Glücksspiel als Bausparvertrag also – denn heftige Kursschwankungen gehören zum Bitcoin-Leben dazu.

Im Innern der Bar, die einst den ersten Bitcoin Automaten beherbergte, stehen fast nur Männer. Davon aber einige. Es herrscht eine Stimmung aus Speed-Dating und vorrevolutionärem Pläneschmieden: Kleine Gruppen stecken die Köpfe zusammen, tuscheln. Gehen weiter, tuscheln wieder. Sie blicken gemeinsam auf eines der Smartphones, auf dem gerade etwas Interessantes zu sehen ist. Beim Bitcoin-Smalltalk fühle ich mich sofort zugehörig zur Gemeinde der etwa 100 Stammtisch-Gäste. Für diesen Abend gehöre ich zum erlauchten Kreis derjenigen, die wissen, wo die Zukunft hinstrebt. Dachte ich. 

Dann merke ich: Hier werden Bitcoins als veraltet bezeichnet. Heute sei man technologisch schon ganz woanders. Namen von anderen Chipgenerationen und Kryptowährungen fallen. Ich versuche, mir die Wortschöpfungen zu merken, und scheitere grandios. Vermutlich würde ich schneller Telefonnummern meines Adressbuchs auswendig lernen können. Bitcoin-Werbeplakate schmücken die Wände: „Debt is over. If you want it.“ Felix, ein junger Typ von gedrungener Statur, stellt sich zu mir und flüstert: „Erstens: Man hört nie auf, über Bitcoins zu reden. Zweitens: Man redet nie über seine eigenen.“ Felix erzählt, dass er ein Jahr lang um die Welt gereist ist und nur mit Bitcoins gezahlt hat. Besonders gut hätte das in Venezuela funktioniert. In dem heruntergewirtschafteten Land herrscht Hyperinflation, viele Leute nutzen dort Bitcoins als Alternativwährung. Jetzt will die Regierung sogar ihre eigene Kryptowährung einführen: den „Petro“.

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Levin Keller in der Burgerbar Room 77

Checkt er seine Wallet oder surft er nur? An einem ruhigeren Abend in der Bar als die Währung noch weniger Wert war

Ich spreche Ullrich an, der, wie fast alle hier, Programmierer ist. Er erinnert mich an eine unsportliche Version des glatzköpfigen Schiedsrichters Collina. Man möchte ihm sofort die eigene Lebensgeschichte anvertrauen, weil er so zutraulich blickt. Er habe schon kurz nach Erfindung des Bitcoin mitgemacht. Für ein paar Dollar kaufte er 3.000 Bitcoins. Heute wären sie rund 40 Millionen Euro wert. Leider hat er sie verkauft, als es vor einigen Jahren vermehrt Hacker-Einbrüche gab. Hacker klauen gerne die geheimen Schlüssel, die die Nutzer bei Bitcoin-Börsen hinterlegen, und bereichern sich dadurch. Ullrich erzählt von einer Müllkippe in Wales, auf der der geheime Zugangsschlüssel eines Mannes liegt. Hätte der Waliser seine Festplatte nicht bei einem Umzug verloren, besäße er jetzt gut 100 Millionen Euro.  Immer wieder werden wir von schreckhaften Gestalten unterbrochen. Wie der Süchtige auf der Suche nach seinem Dealer fragen sie die Herumstehenden: „Do you sell?“ Sie wollen Bargeld eintauschen, so wie auch ich noch vor ein paar Tagen. 

Schürfst du noch oder handelst du schon?

Ullrich muss lachen, als ich ihm von meinem Plan erzähle, am Tresen mit Bitcoins zu zahlen. Niemand hier benutzt seinen Kontostand für so Profanes. „Eine Cola bitte“, sage ich, und der Barkeeper holt aus der hinteren Ecke ein Smartphone. Den QR-Code scannen, und mit einem Klick wäre das Geld überwiesen – doch ich halte inne: 12,49 Euro? Fast zehn Euro Transaktionsgebühren soll ich zahlen. Im Moment würden so viele Transaktionen gemacht, da steigt der Preis. Pro Sekunde können weltweit nur fünf Transaktionen in die Blockchain geschrieben werden.

Wie das Fahren auf der Autobahn sei das. Mal voll, mal leer. Nur dass derjenige, der bereit ist, mehr Transaktionsgebühren zu zahlen, bei Stau auf der Überholspur fahren darf. Weil meine Cola natürlich schnell bezahlt werden soll, wählt meine App diese hohe Gebühr aus. Wenn ich billig und langsam will, müsste ich ein paar Wochen warten. Ich entscheide mich für das fast 3.000 Jahre alte Zahlungsmittel, wie alle anderen hier. Sind das noch Revolutionäre oder schon nerdige Spekulanten? 

Ich entscheide mich auch für das fast 3.000 Jahre alte Zahlungsmittel. Sind das noch Revolutionäre oder schon nerdige Spekulanten?

Während ich an der kohlensäurelosen Cola nippe, betritt Michael die Bar. Die meisten Männer in dem schmuddeligen Raum sind Mitte 30, haben einen IT-Hintergrund und sehen auch so aus: Kapuzenpulli, Karohemd oder T-Shirt mit lustig gemeintem Aufdruck. Nicht Michael: Sein gebügeltes hellrosa Hemd lugt unter dem maßgeschneiderten Mantel hervor. Mit sonorer, schneidender Stimme, die in die Chefetage gehört, erzählt er von seiner Mining-Fabrik. Mining ist das englische Wort für „schürfen“ und bezieht sich auf die Goldgräber in den USA. Im Bitcoin-Kosmos sind Miner diejenigen, die Computer unterhalten, mit denen sie die Blockchain schreiben und neue Bitcoins errechnen. Mir wird klar, warum es Transaktionsgebühren gibt. Jedes Mal, wenn ein Bitcoin bewegt oder eine Cola damit bezahlt wird, verbraucht das so viel Strom, wie 3.285 Stunden lang den Fernseher laufen zu lassen.

Michael hat schon vor dem Abitur sein erstes Internetunternehmen gegründet und vor ein paar Jahren zusammen mit einem Partner eine Mining-Farm aufgebaut. Chips, die 100.000-mal mehr leisten als normale Computer, berechnen die komplexen mathematischen Formeln. Wie wenn man früher in der Schule aus Langeweile auf dem Taschenrechner zwei sehr große Zahlen miteinander multiplizieren wollte und „Error“ angezeigt wurde. Mining-Michaels Rechner können das.

Dafür wird er vom Bitcoin-Netzwerk entlohnt. „250 Jahre lang gab es vor allem vier Anlagemöglichkeiten: Edelmetalle, Immobilien, Aktien, Bargeld. Jetzt gibt es eine fünfte: die Kryptowährungen.“ Ein bisschen fühle sich das schon so an, als wärst du Goldgräber. Als würdest du im 19. Jahrhundert in Colorado Gold schürfen. Er lacht siegessicher. Wo steht denn seine Mining-Farm?, frage ich. Er hört auf zu lachen. Felix’ goldene Regel gilt auch hier. Nur so viel sagt er: „Für Blockchain-Technologien sind Staatsgrenzen sekundär. Für Strompreise nicht.“ 

Ich setze mich zu Bea und Sarah, zwei von wenigen Frauen im Raum. Vor ein paar Wochen seien sie jeweils mit 500 Euro gestartet und hätten ihren Einsatz mittlerweile verdoppelt. Bea sucht jetzt einen Käufer. Kurz werde ich schwach. Mein letztes Bargeld eintauschen? Dann entscheide ich mich doch für den Heimweg. 

Beim Rausgehen plagen mich Zweifel: Soll ich vernünftig sein und mir den Gewinn auszahlen? Oder mich dem Rausch hingeben und spekulieren? Ich werfe einen letzten Blick ins Innere der Bar. Die Bitcoin-Werbeplakate hängen dort nur provisorisch an den Wänden, kurz vorm Runterfallen.

Fotos: Jens Gyarmaty / VISUM