Svenja K. interessiert sich für Politik. Oft schaut sie am Abend Nachrichten. Auch einen Favoriten für die Bundestagswahl hat die junge Frau aus Schleswig-Holstein bereits. Nur wählen darf sie weder den Kandidaten noch die Partei. Grund dafür ist ihre geistige Behinderung. Svenja K. lebt in einer Wohngruppe nahe der Landesgrenze zu Hamburg und braucht im Alltag eine Betreuung in „allen Angelegenheiten“, wie es im „Erforderlichkeitsgrundsatz“ heißt. Ihre Betreuerin kümmert sich um regelmäßige Arzttermine, begleitet sie bei Behördengängen und hilft ihr dabei, ihr Konto zu führen. 

Ab wann braucht ein Mensch eine Vollbetreuung? 

Der Paragraf 13 des Bundeswahlgesetzes schließt vollbetreute Menschen wie Svenja K. von den Bundestagswahlen aus. Wörtlich heißt es: „Ausgeschlossen vom Wahlrecht ist derjenige, für den zur Besorgung aller seiner Angelegenheiten ein Betreuer nicht nur durch einstweilige Anordnung bestellt ist“. Die Hintergründe des Wahlverbots: Rundum betreute Menschen könnten sich per Definition nicht um ihre „Angelegenheiten“ kümmern. Weitergedacht seien sie also nicht in der Lage, politische Entscheidungen zu treffen und tatsächlich wählen zu gehen, und sie seien in ihrer Wahlentscheidung leicht manipulierbar. Bundesweit sind rund 84.000 Menschen von diesem Ausschluss betroffen, dies sind rund ein Prozent der Menschen mit amtlich anerkannter schwerer Behinderung. Zum Vergleich: Für die Bundestagswahl 2017 sind 61,5 Millionen Bürger wahlberechtigt. Behindertenverbände wie die Lebenshilfe kämpfen seit Jahren gegen den Wahlrechtsausschluss. Es geht ihnen ums Prinzip. „Das Wahlrecht ist ein Bürgerrecht und steht jedem Volljährigen zu. Eine geistige Behinderung darf dieses Recht nicht außer Kraft setzen“, sagt Bettina Leonhard, Juristin bei der Bundesvereinigung Lebenshilfe. 

 

Dass ihr die Fähigkeit, bei der Bundestagswahl eine eigene politische Entscheidung zu treffen, abgesprochen wird, ärgert auch Svenja K. „Ich war doch erst im Mai wählen“, sagt sie. Bei den diesjährigen Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen konnten auch Menschen mit Vollbetreuung wählen. Wenn sie dabei Unterstützung brauchten, durften sie einen Wahlhelfer oder einen Betreuer mit in die Kabine nehmen. Svenja K. war zusammen mit ihrer Mutter im Wahllokal. Für ihre Wahlentscheidung habe sich ihre Tochter viel Zeit gelassen, berichtet die Mutter. Sie besuchten gemeinsam mehrere Wahlkampfveranstaltungen und sprachen mit der Betreuerin über die Parteien. 

Kommt ganz darauf an, in welchem Bundesland er lebt 

 

Sicher sind nicht alle Menschen mit Vollbetreuung so handlungsfähig wie Svenja K. Sie trifft trotz Vollbetreuung im Alltag viele Entscheidungen selbst. Zahlreiche Menschen mit Behinderung, die ebenfalls vom Wahlausschluss betroffen sind, können dagegen nicht die Entscheidung, wählen zu gehen, artikulieren oder treffen. Dabei ist die Definition, wer eine Vollbetreuung braucht, nicht einheitlich. Eine Studie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zeigte im letzten Jahr, dass die Wahrscheinlichkeit, eine Betreuung in allen Angelegenheiten zu erhalten, in Bayern 26-mal so hoch ist wie in Bremen.

Aus Sicht von Befürwortern spielt der Grad der Behinderung bei der Forderung nach Gleichbehandlung aber keine Rolle. Verena Bentele, Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, bezeichnet das Wahlrecht für alle Menschen mit Behinderung als Chance und nicht als Gefahr für die Demokratie. 

Gängiges Gegenargument: die Möglichkeit einer Manipulation 

Diese Einschätzung teilt auch die Lebenshilfe in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen und sieht sich dabei durch die diesjährigen Landtagswahlen bestätigt. Zahlreiche Menschen mit Behinderung hätten die Informationsangebote in leichter Sprache sowie die Veranstaltungen mit den Kandidaten in den Einrichtungen wahrgenommen und seien später auch zur Wahl gegangen, heißt es vom Bundesverband. Umso größer sei das Unverständnis dieser Menschen über das Wahlverbot bei der Bundestagswahl. Exakte Zahlen, wie viele ihr neues Wahlrecht bei den Landtagswahlen genutzt haben, gibt es nicht.

Widerstand gegen die Aufhebung kommt aus Teilen der CDU. Ein Argument, dass in der Vergangenheit öfter mal genannt wurde, ist: Das Wahlrecht könnte durch Betreuer missbraucht werden – zum Beispiel, indem sie für ihre Klienten abstimmen. Eine der Gegenpositionen stammt aus einer Bundestagsrede von Reinhard Grindel (CDU) aus dem Jahr 2013. Darin sagt er: „Ein Ausschluss vom Wahlrecht ist nicht nur zulässig, sondern nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts immer dann geradezu geboten, wenn eine Person aufgrund ihres gegenwärtigen individuellen körperlichen oder geistigen Zustands unzweifelhaft keinerlei Einsichtsfähigkeit oder Verständnis dafür hat, worum es bei einer Wahl geht. Das ist der Maßstab“.

Allerdings ist diese Forderung nach Wahlverständnis nicht konsequent. So können Demenzpatienten ihren Angehörigen eine Versorgungsvollmacht ausstellen und damit weiter wählen, sie sind nicht vom Wahlrechtsausschluss betroffen. 

„Pessimistisch gesprochen ist keine Briefwahl vor Missbrauch sicher. Trotzdem halte ich die Gefahr für einen Missbrauch sehr gering“, sagt die Juristin Leonhard von der Lebenshilfe. Für einen Menschen mit Behinderung zu wählen sei strafbar. Ein Betreuer würde mit solch einer Handlung vor allem seine berufliche Existenz riskieren, aber sicher keinen erheblichen Einfluss auf den Wahlausgang ausüben. 

Doch der Wahlausschluss verstößt gegen die UN-Behindertenrechtskonvention

Ein weiteres starkes Argument gegen den Wahlausschluss kommt von den Vereinten Nationen. Die bisherige Regelung steht nämlich im Widerspruch zu der UN-Behindertenrechtskonvention, die vor zehn Jahren auch Deutschland unterschrieben hat. Laut Artikel 29 müssen die Vertragsstaaten sicherstellen, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können. In Italien, Großbritannien, Schweden und den Niederlanden beispielsweise dürfen auch Menschen mit einer Vollbetreuung ganz selbstverständlich wählen. 

Dass Deutschland noch bis zur Bundestagswahl am 24. September nachziehen wird, gilt als unwahrscheinlich. Vor allem in der Unionsfraktion ist der Widerstand gegen eine schnelle Anpassung des Wahlrechts groß. Der letzte Vorstoß der SPD scheiterte im Frühjahr. Nun will man die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abwarten. Dort hatten einige Menschen gegen den Wahlausschluss geklagt. Über die Beschwerde soll noch in diesem Jahr befunden werden – Verhandlungstage stehen allerdings noch nicht fest.

Illustration: Frank Höhne