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Im Alcatraz des Nordens

Schon mit zwölf interessierte sich Anna Abraham für Gefängnisse. Heute leben 300 Straftäter hinter ihren Gittern – in einer der liberalsten und zugleich strengsten Anstalten Deutschlands

  • 6 Min.
Anna Abraham

Wer zum ersten Mal ein Gefängnis besucht, zum Beispiel die JVA Oldenburg, spürt eine seltsame Vertrautheit. Da sind diese sehr, sehr hohen Mauern, die ernsten Sicherheitsbeamten, die akribisch die Ausweise der Besucher checken, der Blick zwischen Gitterstäben hindurch in den blauen Himmel. Alles wie im Film. Bis auf den prall gefüllten Apfelbaum im Gefängnisgarten. Und Anna Abraham.

Was machen Inhaftierte eigentlich den ganzen Tag? Müssen sie arbeiten, dürfen sie surfen? Hier geht's zum FAQ

Anna Abraham ist 41 Jahre alt. Zusammen mit vier anderen leitet sie die Anstalt. Viele der 300 inhaftierten Männer sitzen wegen Mordes, Sexualverbrechen oder Kindesmissbrauchs ein. Auch Niels Högel, der als Krankenpfleger mindestens 100 Menschen getötet haben soll, ist hier in Haft. Manche nennen die JVA Oldenburg das „Alcatraz des Nordens“, weil es so gut wie unmöglich ist, daraus auszubrechen. Nur ein Mal ist es gelungen, da hatte ein Wärter einen Gefangenen im Wäschewagen rausgeschmuggelt. „‚Unerlaubten begleiteten Ausgang‘ nennen das manche Kollegen“, erzählt Abraham. Mitlachen möchte sie über solche Beamtenwitze nicht.

Die Insassen wohnen in WGs zusammen – mit eigener Küche, Billardtischen und Duschräumen

Abraham wusste schon früh, dass sie diesen Job machen will. Mit zwölf las sie ein Buch über jugendliche Straftäter. Wie so viele Krimis endete auch dieser mit dem Richterspruch. Damals fragte sie sich: Und was passiert nun mit den Verurteilten? Welches Leben erwartet sie hinter Gittern? Als Jurastudentin dann arbeitete Abraham ehrenamtlich in einem Jugendgefängnis und ärgerte sich darüber, dass die Straftäter dort meistens 23 Stunden am Tag alleine in ihrer Zelle sitzen mussten.

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Gefängnisgarten

Haben leicht watscheln: Die Gefängnisenten müssen sich nur eine Stunde am Tag den Hof mit den Inhaftierten teilen

In der JVA Oldenburg ist das anders. Die Boulevardpresse nennt sie gern „Kuschelknast“. Als der ehemalige Leiter, Gerd Koop, mit der Konzeption des im Januar 2001 in Betrieb genommenen Gefängnisses beauftragt wurde, setzte er sich mit Wärtern und Gefangenen zusammen. Viele ihrer Ideen flossen in die Baupläne ein. Heute wohnen die Insassen auf ihren Stationen wie in WGs zusammen – mit eigener Küche, Billardtischen und Duschräumen. Nur nachts werden sie in ihre Zellen gesperrt.

Halten sich die Männer an die Regeln, genießen sie viele Freiheiten …

Abraham führt durch die Anstalt. Ihr lang gezogenes „Moin!“ schallt durch die Flure und als Echo aus jedem Winkel der Anstalt wieder zurück. Der Soundtrack des Gefängnisrundgangs: Egal ob Wärter oder Insasse, alle grüßen sich hier ständig. Und überall riecht es penetrant nach Putzmittel – ein Gefängnis, so hygienisch wie ein Krankenhaus und so karg wie ein Schullandheim. Zwei Häftlinge säubern die Gitterstäbe, eine Putzkolonne schiebt ihren Wagen den Flur entlang, ein Gefangener wienert den bereits glänzenden Linoleumboden. Arbeit, die nur dazu da ist, Beschäftigung zu schaffen – und zu erziehen.

Früher baute man Gefängnisse, um Rache und Vergeltung zu üben. Die Körper der Gefangenen wurden gefoltert, eingesperrt, bestraft. Auch heute ist der Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten ein wichtiges Ziel der Freiheitsstrafe. In erster Linie geht es aber um Erziehung und Disziplinierung, darum, später ein sozial verantwortliches Leben führen zu können. Wer erwachsen ist, hat seine Sozialisation normalerweise abgeschlossen. Er weiß dann, wie er am liebsten Konflikte löst, Geld verdient, Gabel und Messer benutzt. Hier, hinter Gittern – und für die JVA Oldenburg gilt das ganz besonders –, wird man zum zweiten Mal erzogen: richtig putzen, richtig essen, höflich sein. Wer das kann, genießt in der Haft viele Privilegien. Er kann sie aber auch schnell wieder verlieren.

JVA

JVA Insasse

Oberste Tugend in der JVA: Sauberkeit. Erst, wenn das Linoleum glänzt wie Parkett, ist genug gebohnert

„So wie zum Beispiel der Pendler“, sagt Abraham und meint damit einen Inhaftierten, mit dem sie gerade einen Termin hatte. Der Pendler lässt immer wieder sein Bettlaken aus dem Fenster hängen, um Gegenstände zwischen den Zellen hin- und herzutransportieren. Abraham sagt nicht, was für welche, aber um Gummibärchen handelt es sich wahrscheinlich nicht. Jetzt hat der Häftling eine Disziplinarstrafe bekommen: Für zwei Wochen muss er auf seinem Zimmer bleiben und darf bei den Gemeinschaftsaktivitäten am Abend nicht mitmachen.

Abrahams Job erinnert an den einer Schuldirektorin. Die Gefängnisleitung entscheidet über „Maßnahmen“ und „Strafen“, legt eine Hausordnung fest. Sie ist es, die zusammen mit Psychologen die Haftbedingungen der besonders schweren Fälle wie Mord und Sexualverbrechen bestimmt. Zweimal im Jahr sitzt die Gruppe wie bei einer Zeugniskonferenz am Schuljahresende zusammen. Auch der Gefangene ist dabei. Zusammen beraten sie über den weiteren Verlauf seiner Haft. Am Ende steht ein Plan mit Arbeits- und Ausbildungsstellen, Therapien oder möglichen Lockerungen des Vollzugs.

… streng überwacht werden sie aber trotzdem: Überall sind Kameras installiert

In Abrahams Erläuterungen fallen Fachbegriffe, die man erst mal googeln muss, aber auch Wörter wie „krass“ und „geil“. Wenn sie ihre Leine zeigt zum Beispiel: Wer hier arbeitet, trägt immer ein kleines Gerät bei sich. Im Notfall, wenn Gefangene übergriffig werden oder es einen Selbstmordversuch gab, löst eine kleine Schnur am Gürtel den Ausnahmezustand aus. Das sei schon krass, sagt Abraham. Dann fangen hier alle an zu rennen!

 

JVA

Carpe Diem

Mit der Begrenztheit des Raumes wächst die Fantasie: Nach der Arbeit wird in der JVA Oldenburg getöpfert und gemalt

In Notsituationen trifft sich das Kernteam zur Lagebesprechung im Herzstück des Gefängnisses: der Sicherheitszentrale. Tag und Nacht werden hier die Kamerabilder aus jedem Winkel des Gefängnisses ausgewertet. Nur in den Zellen und Duschräumen gibt es keine Überwachung. In der JVA Oldenburg werde die Leine aber nur sehr selten gerissen, sagt Abraham; das Gefängnis hat eine der geringsten Gewaltquoten in Deutschland.

Zur Vorbereitung muss Abraham die Akten der „richtig harten Fälle“ lesen, von Straftätern, die Kinder missbraucht haben zum Beispiel. Detailliert werden darin die Taten beschrieben. Um diese Szenen zu vergessen, hilft der Mutter von drei Söhnen: das Fenster öffnen. Oder ins Nebenzimmer gehen und laut „Scheiße“ schreien. Und wenn sie dann in einer Sprechstunde einem solchen Häftling gegenübersitzt, der eine Hafterleichterung fordert? „Dann ist es natürlich eine Herausforderung, ruhig zu bleiben“, sagt Abraham. Du Idiot kriegst hier gar nichts! Besinn dich mal darauf, was du getan hast, schieße es ihr dann durch den Kopf. Aussprechen würde sie solche Gedanken natürlich niemals. Egal welche Fehler ein Mensch begangen hat, in diesem Gefängnis werde jeder gleich behandelt.

Was braucht es, um ein Gefängnis zu leiten? Machtfantasien schon mal nicht

 

Heute reicht Abrahams kurze Mittagspause nur für einen schnellen Imbiss beim „Berlin Döner“, draußen an der Ausfallstraße, die das Gefängnis mit der Innenstadt verbindet: trostloser Vorstadtcharme aus Discountern, Autowerkstätten, Versicherungsbüros. Über dem Falafelteller erzählt Abraham schließlich von einem psychologischen Experiment, das großen Einfluss auf ihre Berufswahl hatte. Um nicht zu sagen: von dem psychologischen Experiment.

1971 ließ ein Forscher zehn Studenten im Keller der Stanford University einsperren und von elf anderen Studenten bewachen. Nach sechs Tagen musste der Versuch abgebrochen werden, die Situation war komplett außer Kontrolle geraten: Die Wärtergruppe hatte sich in einen Zirkel aus Gewalt und Sadismus hineingesteigert, die „Gefangenen“ gedemütigt und bestraft. „Damit das nicht im echten Leben geschieht, ist es so wichtig, dass die richtigen Menschen das totalitäre System Gefängnis leiten.“ Das seien Personen mit wenig Machtanspruch, wenig Selbstverliebtheit und einem guten Menschenbild. Als hätte sie sich soeben selbst beschrieben. 

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