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Sind Volksparteien noch zeitgemäß?

CDU/CSU und SPD bekommen zunehmend Konkurrenz von kleineren Parteien. Wie wichtig sind starke Volksparteien für die Demokratie? Ein Politikberater und eine Politikberaterin streiten

Sind Volksparteien noch zeitgemäß?

Die Volkspartei ist tot. Es lebe die Bewegungspartei, findet Daniel Dettling

„Dinosaurier der Demokratie“ – so hat der frühere NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers schon vor 20 Jahren Volksparteien bezeichnet. Die Polarisierung und Spaltung der Wählergruppen in Wissensarbeiter und Industriearbeiter, Land- und Stadtbevölkerung, Einheimische und Zugewanderte, erfolgreiche Frauen und statusängstliche Männer nimmt in Zukunft zu. Denn die Zeit der großen Konflikte (Arbeit versus Kapital, Kirche versus Staat, Mann versus Frau) ist meiner Meinung nach vorbei. In einer Gesellschaft, die immer säkularer, individueller und moderner wird, schwindet die Bedeutung von ideologischen Großorganisationen wie Gewerkschaften, der Kirche oder eben: Parteien.

Das Modell der „Lieferdemokratie“ ist am Ende

Fast 100 Jahre lang bewegte sich die politische Farbenlehre auf dem Spektrum von Rot bis Schwarz. Die Töne haben sich längst vermischt. Das alte Modell lässt sich als „politics of delivery“ beschreiben: Politiker werden für ihre Versprechen gewählt und liefern nach der Wahl. Dieses Politikmuster hat so lange funktioniert, wie Wirtschaft und Sozialstaat wuchsen und die Bürgerinnen und Bürger keine weiteren Ansprüche an die Politik stellten. 

Der Idealtyp dieses Musters ist der Kurzzeitpolitiker, der auf Sicht regiert, auf Meinungsforscher hört und eine Politik der kleinen Schritte betreibt. Darüber, wohin diese führen könnten, lässt er seine Wähler lieber im Unklaren, weil er keine Vision von der Zukunft hat. Nur ein Teil der Wahrheit, so ist er überzeugt, würde sie bereits in Unruhe versetzen. Zusammengehalten wird das Modell der Lieferdemokratie durch eine Vorstellung von der Gesellschaft als Summe von Minderheiten. Jede gesellschaftliche Gruppe hat dementsprechend bestimmte legitime Ansprüche und Anrechte.

Das neue Modell: „Partei in Bewegung“

International sind längst ein neues Modell und ein neuer Typ Politiker im Trend. Den Anfang machte der 46-jährige Justin Trudeau als neuer Premier in Kanada. Auf ihn folgten 2017 der neu gewählte französische Präsident Emmanuel Macron (40) und der neue österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz (32). Diese neue Politikergeneration verbindet nicht nur ihre Vorliebe für eng geschnittene Anzüge. Mit Ideologien, traditionellen Seilschaften und Bünden haben sie wenig zu tun.

Am meisten riskiert hat der neue französische Präsident, er hat auch am meisten gewonnen. Macrons Projekt heißt „Emanzipation“: Jeder soll seine Position verbessern und seinen eigenen engen Rahmen verlassen können. Macron war der erste Politiker, der in Europa zeigte, wie Verdruss und Nationalismus, die im neuen Rechtspopulismus sichtbar werden, beizukommen ist. Nicht durch einen Wettbewerb an Ignoranz oder Überbietung, sondern durch Auseinandersetzung mit ihnen.

Zukunftspolitik ist dreidimensional 

Statt des alten Rechts-Links-Gegensatzes geht es in Zukunft um eine dreidimensionale Politik: Es geht nicht mehr um Freiheit oder Sicherheit, Staat oder Markt, Weltoffenheit oder Geschlossenheit. Gesellschaftliche Herausforderungen und Probleme werden in Zukunft nicht über Gegner, sondern über Lösungen definiert.

Drei Gebote sind für die politische Auseinandersetzung wichtiger denn je: Gelassenheit, Tonalität und Zuversicht. Politische Gelassenheit meint eine Abrüstung der ideologischen Anfeindungen, die heute die politischen Debatten beherrschen, und eine Haltung, sich nicht irremachen zu lassen. Nicht der Populismus ist gefährlich, sondern die Angst vor ihm. Die neue politische Tonalität ist eine moderate und moderierende. Es geht um eine Sprache der emotionalen Zuversicht bei gleichzeitiger Härte in der Sache.

Die Volksparteien altern schneller und sind homogener als der Rest der Bevölkerung

Die Volksparteien haben nur als Bewegungsparteien eine Zukunft. „Bewegung“ heißt: Sie wollen nicht nur mit ihren Mitgliedern, sondern mit möglichst vielen Bürgern Politik unternehmen und eine positive Vision von der Zukunft entwickeln. Davon sind sie im Moment jedoch sehr weit entfernt.

Die Volksparteien altern schneller und sind homogener als der Rest der Bevölkerung. In einer zunehmend heterogenen und vielfältigen Gesellschaft müssen Zusammenhalt und Integration anders hergestellt werden als durch zwei große Parteien. Die Bürgerinnen und Bürger sind längst weiter und können sich bunte Bündnisse vorstellen. Nicht „Einheit in Vielfalt“, sondern „Einheit durch Vielfalt“ ist das Motto der Zukunft. Die Volkspartei ist tot. Es lebe die Bewegungspartei! 

Daniel Dettling ist Jurist und Verwaltungswissenschaftler. Als Politikberater hilft er Ministerien und Unternehmen sich für die Zukunft zu wappnen. Er ist Gründer des Thinktanks re:publik, Institut für Zukunftspolitik.

Collagen: Renke Brandt  

Wir brauchen Volksparteien für eine stabile Demokratie, entgegnet Sophie Pornschlegel

Nur mit Bewegungs- und Netzwerkparteien, wie Daniel Dettling sie vorschlägt, wird es keine politische Willensbildung geben, die mehrheitsfähig ist. Ohne breit mobilisierende Organisationen werden die BürgerInnen nicht besser vertreten, als sie es bisher sind. Wir brauchen starke Volksparteien: Sie stabilisieren die Demokratie.

Volksparteien sind in der Lage, politische Konflikte und Debatten innerhalb ihrer Strukturen zu kanalisieren. Sie haben die Möglichkeit, ihre zahlreichen Mitglieder bei einem Thema zu vereinen und starke innerparteiliche Bündnisse zu schaffen, noch bevor mit anderen Parteien darüber diskutiert wird. In einer zunehmend polarisierten Gesellschaft, in der politische Diskussionen schnell in moralische „Empörungsbattles“ umkippen, sind Volksparteien der Schlüssel zu einer sachlichen Fachdebatte.

Man spricht zu wenig über die grundsätzlichen Vorteile von Volksparteien 

Sie sind traditionell gut mit der Zivilgesellschaft verbunden gewesen – so beispielsweise die SPD mit den Gewerkschaften. Das hat es ihnen in der Vergangenheit erlaubt, die Interessen und Bedürfnisse von verschiedenen Bevölkerungsgruppen politisch zu vertreten. Und dabei schaffen sie es, ganz unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Interessen zusammenzubringen.

Volksparteien sind keine „single issue parties“, die nur für ein Thema stehen, sondern sind thematisch breit aufgestellt und haben in ihren Reihen zahlreiche ExpertInnen, die sich in ihren Themen gut auskennen. Diese fachliche Expertise aus den Volksparteien ist besonders wichtig, wenn es ums Regieren geht. 

Außerdem verankern Volksparteien die Demokratie auf lokaler Ebene. Ohne die Infrastruktur von Volksparteien wäre die politische Teilhabe vieler Bevölkerungsgruppen nicht möglich. Denn sie tragen wesentlich dazu bei, dass auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene eine konstruktive Debattenkultur herrschen kann.

Volksparteien können und müssen sich reformieren

Die Volksparteien verlieren momentan an Rückhalt. Man kann ihnen ihre Überalterung vorwerfen. Oder eine Politik, von der manchmal nur ihre Klientel und weniger die Allgemeinheit profitiert, mangelnde Öffnung für jüngere WählerInnen oder ihre wenig fortschrittlichen Programme, die nicht die Zukunft, sondern Besitzstandswahrung im Auge haben. Es sind Schwächen, die die Parteien aber selbst angehen können – und müssen!

Volksparteien müssen es wieder schaffen, einen größeren Teil der Bevölkerung auch tatsächlich politisch zu repräsentieren, um sich weiterhin „Volkspartei“ nennen zu können. Es braucht Strategien, um die WählerInnen, die sie an die kleineren Parteien verloren haben, zurückzugewinnen. 

Dafür könnten sie: 

  • ihre hierarchischen Strukturen aufbrechen, 
  • die Verbindungen zur organisierten Zivilgesellschaft wiederbeleben und neu aufstellen,
  • das Personal deutlich jünger, weiblicher und dynamischer auswählen, 
  • digitale Mitmach-Angebote anbieten, 
  • Agenda-Setting und Zukunftsvisionen oben auf die To-do-Liste setzen – also Gesellschaftsentwürfe für alle Schichten und über regionale Differenzen hinweg.

Der Tod der Volksparteien bei unseren europäischen Nachbarn

Um wieder einflussreicher zu werden, müssen die großen Parteien von kleineren, neueren Parteien lernen und über Deutschlands Grenzen hinausschauen: Bei der Mobilisierung, internen Organisation und Öffentlichkeitsarbeit können Volksparteien viel von den neuen Parteien „En Marche“ in Frankreich, „Podemos“ in Spanien oder „Alternativet“ in Dänemark lernen. Ein Blick ins Ausland reicht, um zu sehen, was geschieht, wenn Parteireformen ausbleiben: In Frankreich wurden sowohl die Konservativen als auch die Sozialisten von neuen Parteien überholt. In Italien, Schweden oder den Niederlanden ringen die Volksparteien um ihre Existenz – insbesondere im sozialdemokratischen Spektrum. 

Wichtig ist, dass es nicht nur „kosmetische“ Veränderungen gibt, sondern dass die WählerInnen diesen Wandel tatsächlich spüren. In der Geschichte mussten sich die Volksparteien immer wieder neu erfinden. Sie können es, wenn sie wollen. Erste Zeichen solcher Reformen zeichnen sich ab: Innerhalb der SPD gibt es Erneuerungsprozesse wie SPD++ oder das Debattencamp. Die CDU richtet sich momentan mit einer neuen Vorsitzenden und einem 33-jährigen Generalsekretär auf die „Post-Merkel-Ära“ ein. Wenn diese Reformversuche ernst genommen und durchgesetzt werden, dann haben die Volksparteien einen wichtigen Beitrag für die Zukunft der Demokratie geleistet. Wenn nicht, dann werden sie weiter an Macht und Legitimität verlieren.

Sophie Pornschlegel ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet beim Thinktank Das Progressive Zentrum. Hier beschäftigt sie sich vor allem mit dem Thema Zukunft der Demokratie

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