Sie ist das Flaggschiff deutscher Demoskopen, die sogenannte „Sonntagsfrage“: „Welche Partei würden Sie wählen, wenn am kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre?“ Die Meinungsforscher fragen Bürger regelmäßig danach am Telefon, auch gezielt vor Landtagswahlen. Ihr Ziel: eine möglichst genaue Aussage, wie die Meinung und Stimmung bei den Wahlberechtigten ist.
Das Ergebnis erfährt man dann auf den Webseiten von ARD und ZDF, in Tageszeitungen, Online-Magazinen und natürlich auch im TV selbst. Zur besten Sendezeit berichten der „ARD-Deutschlandtrend“ und das „ZDF-Politbarometer“, wie die angeblichen politischen Neigungen der Bundesbürger sind. Das Problem: Umstritten sind die Erhebung an sich, ebenso die Einordnung der Werte und letztlich auch der Nutzen solcher Umfragen.
Wie die Werte erhoben werden und was ihre Schwächen sind
Es beginnt mit der Befragung: Die ARD lässt von Infratest dimap „mindestens 1.000 Bundesbürger“ befragen, das ZDF durch die Forschungsgruppe Wahlen „rund 1.250 Wahlberechtigte“. Aus diesen Zahlen werden dann die Prozentwerte für die Parteien hochgerechnet. Heraus kommen gerundete Angaben (so wie hier oder hier).
Je höher der prozentuale Wert ist, desto stärker kann das tatsächliche Wahlergebnis davon abweichen. Ein Sprecher des ZDF stellt deshalb klar: „Auch repräsentative Umfragen sind immer Wahrscheinlichkeitsaussagen. Sie können nie hundertprozentig genau sein.“ Er erklärt anhand der ZDF-Umfrage zum „Politbarometer“: Wenn sich 40 Prozent der Befragten für eine Partei entscheiden, dann belaufe sich die sogenannte Fehlertoleranz meist auf rund drei Prozentpunkte. „Das heißt, der Anteil dieser Partei bei allen Wahlberechtigten liegt zwischen 37 und 43 Prozent.“ Bei einem Parteianteil von zehn Prozent beträgt die Fehlertoleranz rund zwei Prozentpunkte.
Allerdings, so erklärt das ZDF, sei es durchaus wahrscheinlicher, dass der wahre Wert „im Zentrum des Intervalls“ liege, also beispielsweise eher bei 40 Prozent als bei 37 oder 43 Prozent. Die Fehlertoleranz ist jedenfalls groß, denn für eine Partei wie die CDU, die derzeit oft bei 40 Prozent in den Umfragewerten liegt, wäre es am Wahltag ein Unterschied wie Tag und Nacht, ob letztlich 43 Prozent oder 37 Prozent erreicht würden.
Ein weiteres Problem sind die Antworten der Befragten an sich. Denn nicht immer sagen sie die Wahrheit. Wer zur Wahl einer rechtsextremen oder nicht etablierten und eventuell umstrittenen Partei neigt, teilt das nicht so gern am Telefon mit, wie mehrere Demoskopen sagen.
So ergaben sich in der Vergangenheit teilweise unerwartet hohe Prozentwerte für kleinere Parteien. Unerwartet – weil sich alle an den Befragungen der Meinungsforscher orientiert hatten. Bei der Landtagswahl 2014 in Sachsen erreichte die AfD am 31. August 9,7 Prozent. Zehn Tage vor der Wahl lag die AfD laut der „Sonntagsfrage“ von Infratest dimap bei nur 7 Prozent, ein krasser Unterschied von 2,7 Prozentpunkten.
Klaus-Peter Schöppner, ehemaliger Geschäftsführer der TNS Emnid Medien- und Sozialforschung, verdeutlicht eine Tatsache, die oft aus dem Blick gerät: „Die aktuelle ‚Sonntagsfrage‘ kann nur aktuelle Einstellungen messen, keine zukünftigen Verhaltensweisen.“ Demoskopen sprechen von einer sogenannten „Einstellungsfrage“. Und die Einstellung kann sich ändern, vor allem wenn vor Wahlen noch etwas geschieht, etwa ein Atomkraftwerk Probleme bereitet.
Meinungsforscher und Medien sagen ganz klar, dass es sich bei der „Sonntagsfrage“ nicht um eine Wahlprognose handele. Infratest dimap: „Rückschlüsse auf den Wahlausgang sind damit nur bedingt möglich.“ Nur: Beim Verkünden der Zahlen im TV oder auch in Zeitungen kann diese ganz wesentliche Information bei den Wählern leicht aus dem Blick geraten, vor allem kurz vor Wahlen.
Kurz vor der Wahl: Wo ARD und ZDF uneins sind
Sogenannte taktische Wähler verfolgen die Umfragen und machen ihr Kreuz beispielsweise eher bei der FDP, wenn sie hoffen, dass sie die Fünf-Prozent-Hürde schafft und in ein Parlament einzieht. Somit können Umfragen die Meinung von Wählern durchaus beeinflussen, sagt Torsten Schneider-Haase vom Meinungsforschungsinstitut TNS Emnid. Allerdings täten das auch viele andere Informationen vor der Wahl. „Das ist also nicht manipulativ, sondern ein gemessener Wert.“
Das ZDF sieht es genauso. Vor der vergangenen Bundestagswahl 2013 brachte das ZDF erstmals ein „Politbarometer“ drei Tage vor dem Urnengang, also am Donnerstag vor dem Wahlsonntag. Das ZDF wollte damit das Recht „des Wählers auf die bestmögliche Information“ einlösen. Frank Brettschneider, Kommunikationswissenschaftler der Universität Hohenheim, begrüßt dieses Vorgehen des ZDF. „Direkte Effekte von veröffentlichten Umfragen auf Wählerinnen und Wähler sind übrigens nicht empirisch nachgewiesen“, sagt Brettschneider.
Die ARD hingegen teilt mit, sie habe sich bewusst entschieden, zehn Tage vor einer Wahl die letzte Umfrage zu veröffentlichen. Denn, so erklärt die ARD: „Mehr als ein Drittel der Wählerinnen und Wähler entscheidet sich mittlerweile erst kurze Zeit vor der Wahl. Diese Phase sollte aus Sicht der ARD nicht von neuen Umfrageergebnissen geprägt sein. Angesichts der immer geringeren Parteibindung der Wählerinnen und Wähler hat das taktische Wählen mittlerweile eine hohe Relevanz. Weitere veröffentlichte Umfragen unmittelbar vor dem Wahltag könnten einen Kreislauf zwischen taktischer Wahlentscheidung und neuer Entscheidungsgrundlage durch Umfragen in Gang setzen, der dem demokratischen Prozess nicht förderlich ist.“
Auch diese Auffassung der ARD wird von einem Experten bestärkt. Carsten Reinemann, Kommunikationswissenschaftler und Medienforscher der Ludwig-Maximilians-Universität München, erklärt, dass sich unentschlossene Wähler unter Umständen an bestehenden Mehrheiten orientieren: „Vor allem Personen, die sich unsicher sind, sich nicht intensiv mit einer Sache befasst haben oder keine feste Meinung haben, greifen auf soziale Hinweisreize zurück, wenn sie sich entscheiden müssen.“. Der Demoskop Klaus-Peter Schöppner sagt: „Die Befunde der Forschung sind widersprüchlich. Es scheint so zu sein, dass der Bandwagon-Effekt (zum Sieger zu gehören) vom Mitleidseffekt neutralisiert wird.“ Nachweisbar sei allerdings: „Ein knappes Ergebnis um die fünf Prozent beflügelt bei einer Fünf-Prozent-Klausel die Wahl einer kleinen, eventuell strategisch wichtigen Partei.“ Ein sehr schwaches oder starkes Umfrageergebnis behindere das.
Was Politiker denken
Auch im Bundestag gehen die Meinungen zur „Sonntagsfrage“ weit auseinander. Der Politikprofessor und Bundestagsabgeordnete Matthias Zimmer (CDU) sagt auf Anfrage von fluter, ihm selbst helfe die „Sonntagsfrage“ „im eigentlichen Sinne nicht“. Immerhin könnten die Zahlen beruhigen, wenn sie gut seien. „Schlechte Werte zeigen bisweilen, dass die Gründe und Ziele von Entscheidungen nicht hinreichend gut kommuniziert worden sind“, sagt Zimmer. Er sehe jedoch nicht die Gefahr, dass der ständige Abgleich mit Zustimmungswerten auch weit vor Wahlen die Entscheidungsfindung von Politikern stark beeinflussen könne, beispielsweise in die Richtung einer Entscheidung, die höchstens als zweitbeste Lösung angesehen wird.
Anders nimmt es Sven-Christian Kindler wahr, Bundestagsabgeordneter der Grünen. Er empfindet die „Sonntagsfrage“ lediglich als hilfreich zur Orientierung, wo die eigene Partei steht. „Eine echte Hilfe für die Arbeit sind sie allerdings oft nicht, da die Werte nicht beantworten, warum sie steigen oder fallen.“
Kindler kritisiert, durch die große Orientierung an Umfragen werde der Bundestag, aber auch die Bundesregierung „völlig entpolitisiert“. Es gebe die Gefahr, dass schleichend „eine gefährliche Pseudodemokratie“ entstehe, „gelenkt von meist um die 1.000 zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern“. Die Ergebnisse der Umfrageinstitute unterschieden sich zudem oft. „Gerade komplexe Themen lassen sich nicht mit ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ beantworten und alle Facetten mit einer zugespitzten Frage abdecken“, sagt Kindler mit Verweis darauf, dass ARD, ZDF und andere Medien auch danach fragen lassen, was die Bürger über einzelne politische Fragen denken, etwa: „Soll Griechenland in der Euro-Zone bleiben?“
Dem Wähler mehr Ruhe gönnen?
So präzise sie klingen mit ihren Hinterkommastellen, sind Umfragewerte eine unsichere Sache. Liegen sie weit daneben, ist das nicht nur für die Demoskopen unangenehm. Es kann auch im Nachhinein für taktische Wähler oder Unentschlossene, die sich an der Mehrheit orientieren, bedeuten, dass sie anders stimmten als ursprünglich geplant.
Umso wichtiger ist es für den Wähler, die Umfragen mit Bedacht zu lesen – und auch die Medienberichte. Gerade direkt vor Wahlen sind Umfragen umstritten. Kurz vor dem Urnengang liefern sie eine weitere Information, statt dem Wähler nach wochenlanger Berichterstattung einfach Ruhe zu gönnen. Und die braucht er, damit er seine Entscheidung fällen kann.
Felix Ehring arbeitet als freier Journalist. Bei der Recherche wurde ihm von Zahl zu Zahl klarer: Ob es nun um Armut, Geburten, Arbeitslosigkeit oder Klimaschutz geht – Interessengruppen führen eine teilweise erbitterte Debatte um die Deutungshoheit dieser Zahlen. Und: Einige Journalisten vermelden amtliche Zahlen einfach, ohne sie zu hinterfragen und einzuordnen. Dabei gilt für jede Zahl: Sie sagt nicht nur etwas aus, sie verschweigt auch etwas.