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So ist es, ich zu sein: Schöffe

Markus Hagge ist seit 14 Jahren ehrenamtlicher Richter an einem Jugendgericht. An schlechten Tagen belastet ihn das – an guten lernt er, wie man Elektroroller knackt

  • 5 Min.
Schoeffe

Ich bin seit 2009 Laienrichter – und habe mich mit 47 gerade für meine vierte Wahlperiode am Jugendschöffengericht in Lübeck beworben. Eine juristische Ausbildung habe ich nicht – und das ist gewollt. Wir Schöffen sollen unseren gesunden Menschenverstand mitbringen. Das reicht.

Für Gerichtsprozesse habe ich mich schon als Schüler interessiert. Ich wollte verstehen, wie das System funktioniert. Das ist ja eine ganz eigene Welt, mit eigenen Spielregeln. Eine juristische Laufbahn hat mich aber nie gereizt. Mir fehlt das Abitur, und es wäre mir auch zu eintönig, jeden Tag im Gericht zu sitzen. Stattdessen bin ich selbstständig in der IT, kann mir meine Tage selbst einteilen und muss nur alle paar Wochen ins Gericht.

Mögliche Verhandlungstermine kriege ich ein Jahr im Voraus, im Schnitt zwei bis drei Verhandlungen pro Monat. Weil sich Täter und Angeklagte natürlich nicht nach diesem Kalender richten, werde ich tatsächlich nur zu etwa zwölf Verhandlungen im Jahr einberufen. Das sind mal drei in einem Monat und dann wieder zwei Monate kein einziger. Egal wie, die Termine sind bindend, Schöffe ist ein verpflichtendes Ehrenamt. Wer da nicht erscheinen will, braucht einen verdammt guten Grund. Ich habe nie gefehlt.

Ein paar Tage vor der Verhandlung kriege ich per Post eine Liste der Zeugen und Angeklagten: Ich muss prüfen, ob ich jemanden davon kenne, also befangen sein könnte. Worum es geht, erfahre ich aber erst vor Ort – und 20 Minuten vor Beginn. Bei uns am Jugendgericht sind es meist Diebstähle und Prügeleien. Die müssen allerdings schon gehäuft aufgetreten sein, damit ein Fall bei uns landet. Unsere Klientel ist jung, aber selten das erste Mal im Konflikt mit dem Gesetz. Am Jugendschöffengericht urteilen zwei Schöffen und ein Richterin (bei mir waren es bisher immer Frauen). Los geht’s in der Regel um neun Uhr morgens.

Beim Jugendgericht geht es nicht um Bestrafung, sondern um Erziehung

Vor Gericht trage ich keine Robe, das dürfen nur Richter. Ich ziehe mich ordentlich an, aber nicht Anzug und Krawatte, um keine unnötige Distanz zu den Angeklagten zu schaffen. Beim Jugendgericht geht es nicht um Bestrafung, sondern um Erziehung. Wir sollen den Jugendlichen auch zeigen, dass wir ihre Taten ernst nehmen, dass die nicht mehr unter kindlichen Leichtsinn fallen, sondern Konsequenzen haben. Wir wollen verhindern, dass es zu weiteren Straftaten kommt. Einmal hat mich ein Angeklagter vor der Verhandlung unwirsch gefragt: „Was bist du denn für einer? Was machst du hier?“ Ich hatte keine Zeit, ihm zu antworten, aber als er mich später vorne neben der Richterin gesehen hat, ist ihm die Kinnlade runtergeklappt.

Während der Verhandlung habe ich dieselben Rechte wie die Richterin. Ich darf einhaken, ich darf Fragen an alle Beteiligten stellen. Dabei muss ich aber aufpassen: Wenn ich einen Fehler mache, den die Verteidiger nutzen können, platzt im schlimmsten Fall die ganze Verhandlung. In heiklen Fällen bitte ich also lieber um eine kurze Unterbrechung und versichere mich bei der Richterin, ob ich die Frage so stellen kann oder ob ich sie umformulieren sollte.

Nach der Beweisaufnahme und den Schlussplädoyers ziehen wir Laien uns mit der Richterin zur Beratung zurück. Jeder von uns hat eine Stimme. Theoretisch könnten wir zwei Schöffen also die Richterin überstimmen. Praktisch habe ich so eine sogenannte Kampfabstimmung noch nie erlebt, das sind immer konstruktive Gespräche. Die können zwischen zehn Minuten und zwei Stunden dauern. Währenddessen kann man seine Meinung ändern, wenn die anderen gute Argumente haben – das gilt auch für die Richter. Am Ende müssen alle drei das Urteil tragen.

Würde man eine echte Verhandlung im TV ausstrahlen, wäre das sehr langweilig

Mit den Geschworenen in den USA oder dem Gerichtsspektakel im deutschen Privatfernsehen, das ich früher natürlich auch geschaut habe, hat die Wirklichkeit herzlich wenig zu tun. Im echten Leben verhalten sich Verteidiger und Staatsanwältinnen sehr kollegial, sie gehen nicht aufeinander los wie bei Barbara Salesch. Würde man eine echte Verhandlung im TV ausstrahlen, wäre das eine sehr langweilige Sendung. Das mag aber auch daran liegen, dass ich am Amtsgericht bin. Da werden nicht die richtig harten Fälle verhandelt. Meine Wahl fiel damals zufällig auf das Amtsgericht. Heute bin ich aber froh, die Schicksale hinter den Fällen belasten einen schon.

Über Details darf ich nicht sprechen, aber mein härtester Fall war eine Vergewaltigung. Das medizinische Gutachten wird laut verlesen, in allen Einzelheiten. Daneben wird das Leben des Opfers haarklein vor allen Anwesenden ausgebreitet und die ganze Tat besprochen. Die Nacherzählung war schon für mich als Zuhörer kaum zu ertragen; ich kann mir nicht ausmalen, wie sich das für das Opfer angefühlt haben muss.

Es gibt aber auch leichtere Tage am Gericht. Einmal hatten wir einen jungen Mann, der sich darauf spezialisiert hatte, Elektroroller zu klauen. Als er merkte, dass wir uns für seine Taten interessierten (die er sofort gestand), weckte das in ihm die Berufsehre. Er erklärte minutiös, wie man welchen Rollertyp am besten klaut. Der war nicht mehr zu stoppen. Danach hätten alle Zuhörer draußen sofort einen Elektroroller klauen können.

Für meinen Einsatz als Schöffe kriege ich eine kleine Aufwandsentschädigung: sieben Euro pro Stunde. Außerdem muss der Arbeitgeber einem bezahlten Urlaub geben für die Zeit. Da ich selbstständig bin, kriege ich dafür eine kleine Sonderentschädigung. Insgesamt ist das viel weniger als mein normaler Stundenlohn, aber ich mache es ja nicht des Geldes wegen. Die Arbeit gibt mir das Gefühl, als kleines Rad im Maschinenraum des großen demokratischen Gefüges mitzuarbeiten. Mein Menschenbild hat das Gericht nicht verändert. Ich habe mir aber angewöhnt, die Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Meine Frau bringt das manchmal auf die Palme. Aber ich habe gelernt, dass Taten manchmal ihre Gründe haben. Das entschuldigt sie nicht, lässt sie aber in einem anderen Licht erscheinen.

Titelbild: Renke Brandt

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