Thema – Wahrheit

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Mein bester Feind

Morgens unterrichtet Marcus, abends provoziert er Menschen im Internet. Warum?

KI generiertes Trump Foto

Das Internet sollte die Befreiung sein. Jede und jeder sollte die Chance haben, gesehen und gehört zu werden. Alle sollten Informationen finden, hervorbringen, verifizieren und verkaufen können. Am Ende würde die Wahrheit siegen. So zumindest hatten es sich die Pioniere des Internets erträumt.

Im Mai 2024 sitzt Marcus, 40, in seiner Man Cave (Hobbyraum im Einfamilienhaus, Blick auf den Garten, irgendwo in Deutschland). Das Internet? „War eine feine Idee“, sagt er und reibt sich das bärtige Gesicht, als müsste er wach werden. „Ist aber eine Shitshow geworden.“

fluter: „Wie meinst du das?“

Marcus: „Die Welt ist im Informationskrieg. In dem kann inzwischen jeder Fakten erfinden, wie er will.“

Und wenn er, Marcus, sich auf Facebook einlogge, sei er mittendrin. Im Krieg. „Und das Trollen ist meine Waffe.“

Was ist Trollen?

Trollen ist wahrscheinlich so alt wie das Internet selbst. Geprägt wurde der Begriff in Foren, die längst von Rechtsextremen und Verschwörungserzählern regiert werden. Tatsächlich entstammt er aber der Fischerei: Trolling bedeutet so viel wie „mit einem Schleppnetz fischen“. Trolle nutzen Provokationen als Köder, um andere online in Gespräche zu verwickeln und so lange zu reizen, bis sie emotional reagieren. Wird einer wütend, traurig, unsachlich, schäumt und rastet aus, obwohl er das gar nicht wollte, hat ein Troll sein Ziel erreicht.

Auf Social Media trifft man auf jedem Kanal, jeden Tag und zu gefühlt jedem Thema Trolle. Einen Troll zu finden ist kein Problem. Kompliziert wird es an einem anderen Punkt: Woher weiß man, dass man nicht selbst getrollt wird?

Marcus muss bei dieser Frage lachen. „Fairer Punkt“, sagt er. Er wird seine Netzaktivitäten mit Screenshots, Chatnachrichten und Fotos belegen. Vor dem Gespräch schickt er einen Artikel der Fact-Checking-Website Snopes. Der zeigt ein älteres Bild des US-Präsidentschaftskandidaten Donald Trump, der zusammen mit einem mittlerweile verstorbenen weltweit bekannten Sexualstraftäter und einem leicht bekleideten Mädchen posiert. Trump hat die Hand auf ihrem Oberschenkel. Snopes schreibt, das Foto sei sehr wahrscheinlich mit künstlicher Intelligenz generiert worden. „Mein Werk“, sagt Marcus.

Es bleiben viele Fragen. Die größte und erste: Warum macht er das?

Wer ist Marcus?

Marcus zeigt auf ein Bild an der Wand gegenüber. Ein Stammbaum. Er müsse jetzt leider ausholen. Das sei aber wichtig, um ihn zu verstehen.

Er sei aschkenasischer Jude, erzählt Marcus. Seine Familie stammt aus Osteuropa, der Großteil sei im Holocaust ermordet worden. „Wir sind nicht mal in die Lager gekommen. Wir haben so tief im Baltikum gelebt, dass man uns einfach in den Kopf geschossen hat“, sagt er. Seine Großeltern aber hätten überlebt und seien nach Brooklyn gekommen. Dort ist auch Marcus geboren und aufgewachsen auf Militärstützpunkten in der ganzen Welt. „Mein Vater war ein sadistischer Marinesoldat. Aber er hat mir eine Menge über Waffen und Informationen und Spionage und Propaganda weitergegeben“, sagt Marcus. Er selbst wurde Geschichtslehrer. Das ist er bis heute, weshalb sein Name hier geändert ist.

Marcus kann sich genau erinnern, wann er beschloss, andere zu trollen: am 6. Januar 2021. Marcus saß vor dem Fernseher. Er war gerade zu seiner Frau nach Deutschland gezogen.

„Ich sah, wie ein Haufen aufgeblasener Möchtegernparamilitärs die Polizei zurückdrängten. Wie sie in das Kapitol in Washington eindrangen. Als Amerikaner dachte ich, unsere Republik sei stark genug, dass solche Leute keinen Erfolg haben.“

Marcus redet sich in Rage. Er sagt, das tägliche Politikhickhack interessiere ihn gar nicht so. Er sei weder Demokrat noch Republikaner.

„Aber, BEI GOTT, es kann nicht noch mal Trump werden. Wenn er diesen amerikanischen Superstaat für vier weitere Jahre in den Griff bekommt, was dann? Was kommt dann??? Wird er die Begrenzung auf zwei Amtszeiten anfechten? Wird er Putin 2.0? Ich möchte, dass diese Republik überlebt. Vielleicht bin ich ein Patriot.“

Aber wie soll Trollen da helfen? Für Marcus ist die Rechnung einfach.

„Für seine Anhänger ist Trump zur Wahrheit geworden.“ Sie hätten sich eine Parallelwelt aufgebaut, online, in der sie sich die ganze Zeit selbst bestätigten. Auf Parler, einer Plattform, die vor allem Menschen aus dem libertären bis rechtsextremen politischen Spektrum und Verschwörungserzähler nutzen. Auf Signal, Reddit oder halt in Facebook-Gruppen. Manche davon hätten Hunderttausende Mitglieder, sagt Marcus.

„Wo erreichst du sonst so viele Menschen gleichzeitig? Im November wird gewählt, der Abstand zwischen Biden und Trump ist minimal. Wenn ich am Ende ein paar Tausend Menschen in einem Swing State verwirren kann, sodass sie nicht Trump wählen, könnte das die ganze Wahl verändern.“

Seit zwei Jahren taucht Marcus in die Trump-Gruppen ein, mehrmals die Woche für mehrere Stunden. Unter falschem Namen tritt er allen rechtsextremen, frauenfeindlichen, christlich-nationalistischen, transphoben Gruppen bei, die er finden kann. Und wartet erst mal ab.

„Observieren“ nennt Marcus das. Er möchte wissen, wen die Trumpheads angreifen. Welche (Verschwörungs-) Erzählungen sie verbreiten, welchen Quellen sie glauben, über wen sie lachen, auf welche Themen sie besonders emotional reagieren.

Aus den Informationen generiert Marcus mit Midjourney, einer künstlichen Intelligenz, Bilder. Er tippt zum Beispiel ein:

Polaroid. 1980s.

High class, decadent party.

Hosted by Donald Trump.

Dann passt er die Bilder so lange an, bis sie den Inhalten in der Gruppe zum Verwechseln ähnlich sind. Es gibt nur einen Unterschied: In Marcus’ Bildern steht Trump nicht als der Befreier da, sondern als der Böse.

trump_party_ki.jpg

KI generiertes Trump Foto
Kann doch nicht wahr sein: Um die „Trumpheads“ zu irritieren, fakt Marcus Fotos mit einer KI

Nachdem er das Bild gepostet hat, wartet Marcus wieder. Auf Widerspruch. Für jeden Einwand hat er schon einen Konter vorbereitet. Nie wird er beleidigend. Wenn einer schreibt, das Bild sei eine Fälschung, antwortet Marcus: Es ist wahr. Er stimmt ihm also zu und gleichzeitig auch nicht. Dieser Interpretationsspielraum würde sie wahnsinnig machen, sagt er. Wenn einer schreibt, er habe Beweise, dass das Bild gefälscht sei, schreibt Marcus: Du hast die Beweise gefälscht. Wenn einer nach der Quelle fragt, schreibt er: ein Tagebuch aus dem kommunistischen Venezuela unter Pedro Wilson.

fluter: „Wer ist Pedro Wilson?“

Marcus: „Keine Ahnung. Ich habe ihn erfunden.“

fluter: „Aber was bringt das?“

Marcus: „Ich schlage sie mit ihren Methoden. Sie leben in einer Welt aus Desinformation. Wie sollen sie die Desinformationen anderer erkennen?“

Marcus lehnt sich auf der Couch zurück. Schimpft noch ein bisschen über ultranationale Christen, das Alter von Joe Biden, über andere Trolle. Es gebe sicher welche, die dasselbe machen wie er, nur eben für Trump. „Ich denke, dass Menschen für den dümmsten Scheiß trollen können.“ Er erzählt von den Desinformationseinrichtungen, die der russische Staat finanziert, die „Trollfabriken“ genannt werden und ganz gezielt und organisiert Demokratien angreifen. Dann zuckt er mit den Schultern und sagt: „Die meisten genießen wahrscheinlich einfach das Chaos, das sie stiften.“

Steckt in jedem von uns ein Troll?

Tatsächlich sind Trolle – und ihre Motive – gut erforscht.

Ein Anruf bei Markus Appel. Er ist Professor für Kommunikationspsychologie an der Universität Würzburg. Appel forscht zu Desinformation und wird erst mal grundsätzlich. Kommunikation, sagt er, habe immer das Ziel, sich mit anderen gemeinsam zu verständigen. Selbst wenn jemand lüge, sei das so. Trollen wiederum sei exakt das Gegenteil.

„Die meisten Trolle wollen sich nicht verständigen, sondern provozieren Widerspruch um des Widerspruchs willen.“ Deshalb, sagt Appel, seien die berühmten russischen „Trollfabriken“ eigentlich „Propagandafabriken“.

fluter: „Wer sind Trolle genau?“

Appel: „Überwiegend junge Männer.“

fluter: „Können Sie die charakterisieren?“

Appel: „Trolle gibt es durch alle Bildungs- und Einkommensschichten und in jedem Land der Welt. In gewisser Weise sind sie ein Querschnitt der Gesellschaft.“

fluter: „Wie sollte man auf Trolle reagieren?“

Appel: „Einfach nicht auf sie eingehen. Wenn es schlimm wird: melden und blockieren.“

Vor zwei Jahren sorgte eine EU-weite Studie der University of East London für Aufsehen. Forschende hatten 16- bis 19-Jährige zu ihrem Onlineverhalten befragt. Mit dem Ergebnis: Jeder Vierte hatte im Jahr zuvor jemanden getrollt.

Appel wundern solche Zahlen nicht. Das Trollen sei in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Das liege auch daran, was das Trollen in unseren Gehirnen auslöse. „Wenn Sie Trolle fragen, sagen die meisten: Es macht Spaß. Aber dahinter steckt oft noch mehr.“ Wenn man Personen gegen ihren Willen etwas tun lasse, und selbst wenn man sie nur zum Ausflippen bringe, erzeuge das ein Gefühl von Macht, sagt Appel. „Und Macht ist ein gutes Gefühl.“ Was wahrscheinlich auch erkläre, warum mehr junge Menschen trollen: Sie haben strukturell weniger Macht als ältere. Manchmal könne dieses Gefühl zu Eskalation führen, sagt Appel. „Trolling und Hatespeech sind nah beieinander. Sie können ineinander übergehen.“ Aus vergleichsweise harmlosen Trollen werden organisierte Hater.

Steckt in jedem ein Troll? „Jede Person hat die Tendenz zumindest in sich“, sagt Appel. Unter Geschwistern drücke man oft genau den wunden Punkt des anderen. „Aber man hat die Wahl, ob man dem inneren Troll nachgibt.“

„Trollen ist Sport“

Marcus muss los. Er hat eine hochschwangere Frau, um die er sich kümmern will. Sie weiß von seinem Getrolle. Sie mag es nicht. Aber sie verstehe, warum er es tut, sagt Marcus. Das Hässliche ziehe Hässliches an, sage sie ihm öfter. „Da hat sie nicht unrecht“, sagt Marcus. „Aber das Risiko gehe ich ein.“

Zwei letzte Fragen noch. Macht Trollen – bei allem Ernst, bei aller Politik – nicht auch ein bisschen Spaß? Zum ersten Mal überlegt Marcus länger. Dann beugt er sich vor.

Marcus: „Wahrscheinlich ist es vergleichbar mit Sport oder einer Jagd oder einem Spiel. Wenn man gewinnt, fühlt es sich gut an.“

fluter: „Tun dir die Leute manchmal leid, die du verarschst?“

Marcus: „Nur wenn sie ehrlich unsicher sind und wieder in die echte Welt zurückgeholt werden können. Wenn sie mit dem Ende der Demokratie einverstanden sind, dann nicht.“

Dieser Text ist im fluter Nr. 91 „Streiten“ erschienen

Genau wisse er nur eins: Für die Tochter, die er bald haben wird, will er keine USA unter Trump. Er will ihr seine Heimat zeigen. Vielleicht wieder zurück, wenn sie groß ist. Aber wer weiß schon, wie die USA dann aussehen. Marcus hat Angst, dass das Frauenbild wieder in dunkle Vorzeiten zurückgesetzt wird. Trump klüngelt immer wieder mit radikalen Abtreibungsgegnern. „Meine Tochter soll frei entscheiden dürfen. Und nicht behandelt werden wie eine Kuh“, sagt er. Er sieht den fragenden Blick des Reporters und schiebt nach: „Gebären und Milch geben.“

Marcus wird weiter trollen. „Wenn Biden im November auch nur um Haaresbreite gewinnt, weiß ich, dass es das wert war.“

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.