Die sogenannte Schuldenbremse zwingt Deutschland zu sparen. Sie verbietet der Regierung, neue Schulden von mehr als 0,35 Prozent des in einem Jahr erwirtschafteten Geldes, des Bruttoinlandsproduktes (BIP), aufzunehmen. Das entspricht derzeit rund 14,4 Milliarden Euro. Nur in „außergewöhnlichen Notsituationen“ darf die Bremse ausgesetzt werden, zuletzt etwa in der Pandemie oder für die Unterstützung der Ukraine. Seit 2009 steht die Schuldenbremse im Grundgesetz. Seiher wird gestritten: Sind Klimakrise, Kinderarmut oder Pflegenotstand nicht gute Gründe, sich mehr Geld zu leihen? Gefährdet die Bremse den Wohlstand kommender Generationen – oder verhindert sie Verschwendung? Was sollte mit ihr geschehen?
Schuldenbremse beibehalten – denn sie zwingt uns, Ausgaben zu priorisieren
meint Timothy Randall
So wie in Deutschland über die Schuldenbremse debattiert wird, kann man den Eindruck bekommen, Deutschland könne seinen staatlichen Verpflichtungen, wie beispielsweise die Sanierung von Straßen und Schulen, kaum noch nachkommen, weil durch die Schuldenbremse das Geld fehle. Das ist natürlich Quatsch. Trotz Schuldenbremse betrug zum Beispiel die Staatsquote, also die Ausgaben eines Staates im Verhältnis zu seinem Bruttoinlandsprodukt, 2023 ganze 49,1 Prozent. Das, was der Staat jährlich ausgibt, beträgt wertmäßig also fast die Hälfte des Betrages aller produzierten Waren und Dienstleistungen in Deutschland. Das ist nicht wenig.
Die Schuldenbremse schützt die Bevölkerung aber vor dem, was Ökonomen „present bias“ nennen: Auf Wiederwahl bedachte Politiker denken gern kurzfristig. Gerade direkt vor Wahlen kann es für sie attraktiv sein, plötzlich viel Geld auszugeben, um Wählergruppen noch von sich zu überzeugen. Und weil Steuererhöhungen kurz vor der Wahl nicht gut ankommen, ist es naheliegend, plötzlich viele Schulden zu machen, um kurzfristig attraktive, langfristig aber weniger sinnvolle Vorhaben zu finanzieren. Also sogenannte konsumtive Staatsausgaben, die eine Erhöhung des möglichen Konsums in der Gegenwart erlauben, wie zum Beispiel das Bürgergeld, statt investive Staatsausgaben, zum Beispiel Investitionen in Infrastruktur, die langfristiges Wirtschaftswachstum in der Zukunft begünstigen.
37,5 Milliarden Euro Staatsausgaben im Jahr entfallen allein auf Zinszahlungen
Um den oben beschriebenen Hang der Politik zum „Gegenwartskonsum“ einzuschränken, ist die Schuldenbremse ein gutes Mittel. Außerdem gibt es diverse empirische Studien, die zeigen, dass Regeln wie die Schuldenbremse, die den Handlungsspielraum des Staates einschränken, positive Effekte haben: Sie können etwa die Zinsen senken, die Staaten auf ihre Schulden zahlen, und gehen oft mit Wirtschaftswachstum einher. Generell verhindert die Schuldenbremse auch, dass zu viele neue Schulden aufgenommen werden und somit die Zinsen auf diese Schulden wiederum Geld kosten, das dann für andere Aufgaben fehlt.
Deutschland befindet sich im europäischen Vergleich der Schuldenstandsquoten auf Platz 16 von 27, sozusagen im Mittelfeld. Im Vergleich zu einigen anderen europäischen Staaten, wie Griechenland oder Italien, ist Deutschland sehr niedrig verschuldet. Aber selbst im moderat verschuldeten Deutschland zahlen wir ca. 8,3 Prozent der Bundesausgaben, um Schulden zurückzuzahlen. Ganze 37,5 Milliarden entfallen allein auf Zinszahlungen. Das ist nur knapp ein Prozent weniger, als das Bundesministerium für Digitales und Verkehr 2024 ausgeben darf.
Dass Deutschland vergleichsweise niedrig verschuldet ist und hoffentlich bleibt, hilft auch in Notsituationen – wenn in kurzer Zeit viel Geld hermuss. Hätte Deutschland bereits viele Schulden, wäre es für den Staat nicht so einfach, am Kapitalmarkt Gläubiger zu finden, die ihm noch mehr Geld leihen – wer nur gering verschuldet ist, gilt als vertrauenswürdig. Der Staat konnte sich so etwa in der Corona-Pandemie stark verschulden. Als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine konnte Deutschland 100 Milliarden Euro Sondervermögen zur Stärkung der Bundeswehr im Grundgesetz festschreiben und hat aufgrund seiner guten Schuldentragfähigkeit ohne Probleme Kredite dafür aufnehmen können.
Wer weniger Schulden hat, kriegt bessere Kredite, wenn’s drauf ankommt
Die Schuldenbremse verhindert übermäßige Zinslasten, garantiert Flexibilität in Notsituationen und zwingt uns auch dazu, staatliche Ausgaben zu priorisieren. Die müssen regelmäßig überprüft werden, um sicherzustellen, dass Steuergeld gewissenhaft und bestmöglich eingesetzt wird. Deutschland hat bereits vor der Notlage der Corona-Pandemie kaum in die öffentliche Infrastruktur investiert, sodass der Wertverlust der Infrastruktur im Zeitverlauf nicht kompensiert werden konnte. Das hat sich auch seit 2023 nicht geändert und zeigt die mangelnde Priorisierung von Zukunftsaufgaben.
Kurz: Ja, wir haben kaum in die Zukunft investiert, und das, obwohl der Staat genügend finanzielle Mittel hat. Dass sich die Ausgabenpriorisierung plötzlich ändert, indem wir die Schuldenbremse abschaffen, ist nicht plausibel. Deutschland mangelt es nicht an Geld, um den Klimawandel zu bekämpfen oder die Digitalisierung und Bildung zu fördern. Stattdessen mangelt es am politischen Willen, das vorhandene Geld zukunftsweisend einzusetzen: nämlich für langfristige Ausgaben, deren Nutzen sich in der Zukunft auszahlt. Der Bundeshaushalt 2024 steht sinnbildlich dafür: Die Ausgaben für den Posten „Arbeit und Soziales“ übersteigen die Ausgaben für „Bildung und Forschung“ um das Achtfache und sogar um das fast 16-Fache des Postens „Wirtschaft und Klimaschutz“.
Timothy Randall ist FDP-Mitglied und überzeugt, dass Nachhaltigkeit essenziell ist – ökologisch und fiskalpolitisch.
Schuldenbremse lockern – denn sie beschleunigt Krisen
findet Pao Engelbrecht
Kommenden Generationen keinen Schuldenberg zu hinterlassen klingt erst mal vernünftig und logisch. Nur leben wir in einer Zeit, in der sich die Krisen aufeinanderstapeln. Wenn Staaten in solchen Zeiten keine Schulden machen, bleiben dringend nötige Investitionen auf der Strecke: Die Energiewende geht viel zu langsam voran. Viele Schulgebäude sind marode. Auf die Bahn ist kein Verlass, und Angebote zur Prävention von Extremismus und Antisemitismus werden gestrichen. Aus Krisen spart man sich nicht heraus.
Es ist zynisch, die Schuldenbremse mit dem Argument zu rechtfertigen, sie sei unfair für folgende Generationen, die die hohen Schulden später mal abzuzahlen hätten: Die Jungen werden sowieso irgendwann ausbaden, dass die Regierung seit Jahren kaum investiert. Das sehen viele Jugendorganisationen so, in einem offenen Brief haben sich einige öffentlich gegen die Sparpolitik ausgesprochen.
Wer in Bildung investiert, steigert die Steuereinnahmen von Übermorgen
Gerade leiden unter der Schuldenbremse vor allem die Ausgabenbereiche, an denen sich der Zusammenhalt einer Gesellschaft entscheidet: bezahlbarer Wohnraum und Nahverkehr, Krankenhäuser, Pflege- und Sporteinrichtungen, ein gerechtes Bildungssystem. Geld, das in solche öffentlichen Infrastrukturen fließt, ist gut angelegt: Je hochwertiger die Schulbildung, je gesünder und mobiler die Menschen, desto besser sind die Bedingungen. Übrigens auch für Unternehmen, die nur mit gut ausgebildeten Fachkräften und einer funktionierenden öffentlichen Infrastruktur profitabel arbeiten können.
Für den Staat heißt das: Gezielte Investitionen, die er über Schulden finanziert, kann er in Zukunft als Steuern wieder einnehmen. Sparen ist kein Selbstzweck, Investitionen schaffen neue Werte. Denn genauso verliert der Staat zukünftigen Wohlstand und Einnahmen, wenn er weiter spart und Deutschland als Standort für Unternehmen unattraktiver wird. Wenn wir wichtige Investitionen in der Gegenwart vor lauter Sparsamkeit verpassen, steigt die Schuldenquote in der Zukunft.
Klimaschutz ist teuer, kein Klimaschutz ist noch teurer. 30 Milliarden Euro kosteten allein die Schäden im Ahrtal
Das zeigt sich besonders beim dringendsten Problem unserer Zeit: der Klimakrise. Wie teuer die uns zu stehen kommt, ist seit Jahrzehnten wissenschaftlich belegt. In der Politik müsste sich rumgesprochen haben, dass es billiger ist, in den Klimaschutz zu investieren, als entstandene Schäden im Nachhinein zu reparieren. Nach der Flut im Ahrtal haben Bund und Länder allein 30 Milliarden Euro bereitgestellt, um die Schäden zu beheben: Das entspricht 15 Prozent des gesamten Bundeshaushalts – für eine Extremwetterlage.
Klimaschutz ist teuer, kein Klimaschutz kostet deutlich mehr. Selbst wer rein wirtschaftlich denkt, müsste also befürworten, dass wir Schulden aufnehmen und das Geld in Klimaschutz stecken, um unsere Treibhausgasemissionen schnell zu senken. China und die USA investieren massiv in grüne Technologien. Dass es möglich ist, sich dafür höher zu verschulden, zeigen viele andere Industriestaaten. Japan zum Beispiel, das eine mehr als dreimal so hohe Staatsschuldenquote hat wie Deutschland.
Die Schuldenbremse ist die eierlegende Wollmilchsau – nur ein Fabelwesen
Aus diesen Gründen halten selbst wirtschaftskonservative Politiker und Wirtschaftsexpertinnen die aktuelle Schuldenbremse für überholt. Berlins Bürgermeister Kai Wegner, dessen Partei CDU mehrheitlich hinter der Schuldenbremse steht, nannte sie eine „Zukunftsbremse“ und forderte Investitionen. CSU-Chef Markus Söder tat sie als reine „Prinzipienreiterei“ ab. Auf ihren jüngsten Parteitagen stimmten die beiden größten Regierungsparteien, SPD und Grüne, dafür, die Schuldenbremse grundlegend zu reformieren.
Die dritte Regierungspartei, die FDP um Finanzminister Christian Lindner, hält weiter an der Schuldenbremse fest. Damit handelt er gegen die Interessen großer deutscher Industrien, die Liberalen eigentlich wichtig sind, und Lindner verspricht eine eierlegende Wollmilchsau: Schulden abbauen, die Bundeswehr aufrüsten, das Pariser Klimaabkommen einhalten, Deutschland attraktiv für Unternehmen machen, Steuern senken und soziale Gerechtigkeit herstellen.
Klingt fabelhaft. Aber eben nach einer Fabel. Realistisch und generationengerecht wäre, sich für die richtigen Dinge zu verschulden.
Als Mercator Fellow überlegt Pao Engelbrecht, wie man internationale Maßnahmen zum Klimaschutz finanzieren kann. Schulden hat er auch, ziemlich hohe sogar, aus dem Studium in Manchester.
Collage: Renke Brandt