Thema – Klimawandel

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Was vom Ahrtal übrigblieb

Eine Flutwelle verwüstete im Sommer 2021 Rheinland-Pfalz und NRW. Allein im Ahrtal starben mehr als 130 Menschen. Wie sieht es dort heute aus?

Ahrtal

15. Juli 2021, 4.00 Uhr. Es ist schwülwarm im Ahrtal. In der Nachtluft liegt der Gestank von Öl und Benzin. Es kracht in der Dunkelheit. Nils Arzdorf kann die nur 30 Meter entfernte Brücke über die Ahr nicht sehen. Aber er hört, wie unablässig Gegenstände dagegendonnern. Der 19-Jährige harrt mit neun Kollegen der freiwilligen Feuerwehr, alle in gelbe Warnjacken, auf der Dachterrasse eines Wohnkomplexes in Bad Bodendorf aus. Ein schmaler Radweg trennt das Gebäude von der Ahr. Was, wenn Teile der Brücke gegen das Gebäude krachen? Nils Arzdorf hofft, dass die Pfeiler standhalten – erinnert er sich heute, mehr als ein Jahr später.

17. Juli 2021, 16.20 Uhr. Eine junge Frau sitzt vor ihrem Hauseingang in Bad Neuenahr-Ahrweiler. Sie weint. Kristina Esser hat das Gefühl, nicht genug getan zu haben. Die 28-jährige Notfallsanitäterin hat in den vergangenen Tagen Nachtschichten gemacht, ist tagsüber im Helikopter mitgeflogen und Rettungswagen gefahren, ehrenamtlich. Aber das reicht nicht, findet Esser damals. „So oder so. Wir haben verloren.“ Ihre Augen sind rot und geschwollen. Sie fühle sich wehrlos. Seit Tagen schlafe sie nicht mehr richtig. Sie erzählt von einem älteren Mann, den sie ins Krankenhaus gefahren hat. 20 Stunden lang habe er auf einem Hausdach gesessen und seine tote Frau in den Armen gehalten. Selbst als er abgeholt wurde, wollte er sie nicht loslassen. „Menschen haben ihre Angehörigen ertrinken sehen“, sagt Esser. „Leute wurden auseinandergerissen und von der Flut weggetrieben.“

Szenen aus dem Juli 2021, die nicht nur die Menschen im Ahrtal, sondern in ganz Deutschland erschüttert haben. Innerhalb von 24 Stunden fielen vom 14. auf den 15. Juli 2021 regional mehr als 100 Liter Regen pro Quadratmeter. Eine Wassermenge, die vielerorts nicht schnell genug versickern konnte. Der Pegel der Ahr stieg stellenweise auf über fünf Meter – zum Vergleich: beim Jahrhunderthochwasser von 2016 erreichte er knapp mehr als 3,7 Meter. 

Menschen wurden von der Flut mitgerissen oder ertranken in ihren Häusern, Straßenzüge wurden verwüstet. 134 Tote, mehr als 750 Verletzte, rund 17.000 Betroffene, die ihr Hab und Gut verloren haben. Etwa 70 Prozent der Gebäude entlang der Ahr sollen Schätzungen zufolge beschädigt worden sein. Auch in Nordrhein-Westfalen starben durch starke Überschwemmungen 49 Menschen, mit 180 Städten und Gemeinden war fast die Hälfte der dortigen Kommunen betroffen.

Und doch kehrte an der Ahr ein Alltag zurück. Eine neue Realität, mit der die Menschen heute leben.

„Da fehlt halt einfach die Hälfte der Straße“

Am Tag direkt nach der Flut sollte Notfallsanitäterin Kristina Esser Erkundungstouren machen. Die heute 30-Jährige ist im Landkreis Ahrweiler aufgewachsen, hat hier ihre Ausbildung gemacht. Sie kennt die Straßen rund um die Ahr. Eine davon hat es besonders stark getroffen: Die Flut hat einen Teil der B 266 bei Heimersheim mitgerissen. Sie war vierspurig, es blieben zwei Spuren – bis heute ist das so. „Da fehlt halt einfach die Hälfte der Straße“, sagt Esser. „Das ist jetzt Normalität.“

Eine Normalität, an die sich Esser nur schwer gewöhnen kann. Einige Orte, die die Flut zerstört hat, meidet sie bis heute. Ihre Joggingstrecke an der Ahr zum Beispiel: „Ich war da seit anderthalb Jahren nicht laufen.“

Der Wiederaufbau im Ahrtal geht voran, aber langsam. Etliche Gebäude sind in Gerüste gekleidet, manche noch immer unbewohnbar. Die Betroffenen beklagen, es fehle an Handwerkern, Baumaterial, Planern und Ingenieuren.

Die Kommunen kommen kaum hinterher mit den Anträgen für den Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur. Teils warten Betroffene monatelang auf finanzielle Hilfen vom Staat. 30 Milliarden Euro haben Bundes- und Landesregierung für den Wiederaufbau in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen bereitgestellt. Das größte Hilfspaket nach einer Flut in Deutschland. Geld, mit dem sich neue Häuser und Straßen bauen lassen. Aber wie es war, wird es nie wieder sein. Auch weil beim Wiederaufbau darüber nachgedacht wird, wie solche Katastrophen künftig verhindert werden können.

Die zwei zerstörten Fahrspuren der Bundestraße 266 bei Heimersheim sollen beispielsweise nicht wieder aufgebaut werden. Bauingenieur Robert Füllmann, der aus dem Nachbarort kommt, hat für den Vorschlag zusammen mit Mitbürgern eine Arbeitsgruppe gegründet. Die Stadträte von Bad Neuenahr-Ahrweiler konnten sie bereits überzeugen, der Ahr zwischen Heimersheim und Heppingen mehr Platz einzuräumen. Dann könnte sie bei einer erneuten Flut deutlich schneller abfließen. „Die sind alle einstimmig dafür“, sagt Füllmann. Jetzt gehe es darum, die Landesverkehrsplaner zu erreichen. Keine leichte Aufgabe, meint der Bauingenieur. Deren Priorität sei hauptsächlich eine gute Anbindung und Vernetzung. Dabei wäre dieses Projekt eine ganz konkrete Möglichkeit, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, um sich an das veränderte Klima anzupassen.

„Vieles, was man in Erinnerung hat, ist kaputt, ist einfach weg“, sagt der mittlerweile 21-jährige Nils Arzdorf, der in Bad Bodendorf aufgewachsen ist. Er vermisst sein Freibad. Das im Grünen gelegene Thermalbad, unweit von dem Wohnkomplex, auf dem er damals mit seinen Kollegen kauerte, ist komplett zerstört. „Da bin ich oft mit meinen Freunden gewesen.“ Diesen Sommer blieb es zu. Erst war unklar, ob es jemals wieder aufmacht. Nun hat aber die Stadt Sinzig die Sanierung beschlossen. Mit dem Fußballplatz ging es wesentlich schneller: Der war bereits nach wenigen Monaten wieder spielbereit. Darüber ist Arzdorf froh. Orte, an denen man sich trifft, Freunde wiedersieht, sind ihm seit der Flut noch wichtiger.

Die Warnsysteme haben versagt

Viele Menschen wurden in der Flutnacht nicht rechtzeitig gewarnt. Zwar war Feuerwehrmann Nils Arzdorf mit Kollegen am Nachmittag vor der Flut mit Lautsprecherwagen ausgerückt, um die Anwohner über das angekündigte Hochwasser zu informieren. Nicht alle hat die Botschaft erreicht.

Damit hat die Ahr-Flut Schwachstellen offenbart. Katastrophenschutz und Warnsysteme in Deutschland müssen verbessert werden, solche Naturkatastrophen wird es wegen des Klimawandels häufiger geben. Ein Anfang sind zumindest die neuen Sirenen im Kreis Ahrweiler, insgesamt 85 Anlagen sind dort auf Dächern und Masten angebracht worden.

Der fehlende Kontakt zu Angehörigen war in den ersten Tagen nach der Flut ein großes Problem: Das Mobilfunknetz war in weiten Teilen der Region zusammengebrochen, der Strom weg. „Man war froh, wenn man den Leuten mitteilen konnte, dass man noch lebt“, sagt Kristina Esser. Eigentlich unvorstellbar für eine mobilfunkverwöhnte Gesellschaft. „Wir ärgern uns über jedes Funkloch auf der Autobahn“, sagt Esser. „Zu dem Zeitpunkt wussten wir nicht mal, ob manche Ortschaften überhaupt noch existieren.“

Die Menschen im Ahrtal, sagt Nils Arzdorf, seien jetzt für kommende Unwetter sensibilisiert. Im Sommer 2021 seien alle „den Ereignissen hinterhergelaufen“, sagt Notfallsanitäterin Kristina Esser. Für die Zukunft gelte deshalb auch: schneller reagieren. Angst vor einer erneuten Flutwelle haben die beiden nicht.

Am 14. Juli 2023 wurde eine Passage im Text korrigiert. Zuvor war fälschlicherweise von Talsperren im oberen Flusslauf der Ahr die Rede.

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.