Streit

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Braucht es Aufrüstung, um Frieden zu sichern?

Angesichts des russischen Angriffskriegs hat Deutschland seine Verteidigungsausgaben massiv erhöht. Aber trägt mehr Geld für Waffen wirklich dazu dabei, Konflikte zu lösen? Unser Autor und unsere Autorin streiten

Braucht es Aufrüstung?

Ja! Ein funktionstüchtiges Militär schreckt ab

sagt Björn Müller

Unbedingt braucht es Militär samt dessen Rüstung, um Frieden zu sichern. Das zeigt gerade der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Hier sorgt der militärische Beistand des Westens dafür, dass sich eine Demokratie gegen eine Diktatur verteidigen kann. Ohne diesen militärischen Faktor wäre Diplomatie gar nicht möglich. Nur Widerstand sorgt dafür, dass der Aggressor Russland von seinem Ziel, die Ukraine als unabhängigen Staat zu vernichten, abrücken muss. Um eine Friedenslösung einzuleiten, ist eine Aufrüstung der Ukraine somit entscheidend.

Deutschlands Streitkräfte wurden kaputtgespart

Das gilt auch für ihre Unterstützer wie Deutschland. An der Bundeswehr wurde seit Ende des Kalten Krieges massiv gespart. Es entstand eine „Bonsaiarmee“, so ein geflügelter Ausdruck unter Militärexperten. Das heißt, es gibt zwar von allem etwas – Flugzeuge, Panzer, Munition –, aber nur in geringen Mengen. Dass eine solche Armee nicht lange kämpfen und kaum Gerät an Alliierte abgeben kann, ist natürlich auch Gegnern wie Russland bewusst. Ein Beispiel: Zu Beginn der 1990er-Jahre hatte Deutschland noch mehr als 2.000 Leopard-Panzer, zurzeit noch 245. Die Ukraine hat in dem noch jungen Krieg laut dem investigativen Open-Source-Blog „Oryx“ bereits um die 200 Panzer verloren.

Ob aggressive Staaten einen Kontrahenten für militärisch leistungsfähig halten, ist wichtig bei ihrem Kalkül, ob sie vor einem Angriff zurückschrecken oder nicht. Auch das verdeutlicht der Krieg gegen die Ukraine. Deren relative militärische Schwäche war vermutlich ein gewichtiger Faktor beim Entschluss Russlands, über das Land herzufallen. Das zeigt die russische Operationsführung zum Kriegsauftakt. Die russische Armee meinte, mit schnellen, aber ungesicherten Vorstößen den Krieg in wenigen Tagen gewinnen zu können. Der schnelle Sieg scheiterte dank des ukrainischen Widerstandswillens plus Waffenlieferungen. Arroganz des Angreifers ist aber kein Faktor, auf den man sich verlassen kann, sondern Glück im Unglück. 

Das Militär ist ein unentbehrliches politisches Instrument

Auch wenn es unschön ist: Militär ist ein wichtiger Faktor in der Politik. Das Prinzip der Abschreckung hat zum Beispiel im Kalten Krieg gegenüber der Sowjetunion jahrzehntelang funktioniert. Dabei muss man einschränkend sagen: Dass die Rüstungsausgaben weltweit seit Jahren zunehmen, ist eine bedenkliche Entwicklung. Das berüchtigte „Sicherheitsdilemma“, wonach Staaten durch ihre eigene Aufrüstung die von anderen Staaten antreiben können, gibt es durchaus – das führt aber nicht automatisch zu Krieg. Konflikte zwischen Staaten sind komplex, bei der militärischen Abschreckung spielen auch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und die innere Stabilität der Länder eine Rolle. Abschreckung funktioniert am besten, wenn ein Aggressor den Eindruck gewinnt, dass sein Gegner ernsthaft daran interessiert ist, dessen Ziele zu verhindern. Hitler etwa überfiel Ende der 1930er-Jahre auch deshalb die Nachbarländer Deutschlands, weil er deren Verbündete als kriegsunwillig einschätzte. In Vietnam brauchten die USA eine jahrelange „Kriegslernkurve“, bis sie erkannten, dass ein Beistand für Südvietnam sinnlos war, weil Nordvietnam bereit war, weitaus mehr Opfer in Kauf zu nehmen.

Dass Russland auch atomare Drohgebärden Richtung Westen richtet, ist im Übrigen nichts Neues: Die gab es auch schon in den Jahren vor dem Angriffskrieg. Die nukleare Angstmache soll offensichtlich Unsicherheit und Spaltung im gegnerischen Lager erzeugen. Sie ist ein perfides Werkzeug, um die Kriegskosten für Russland einzugrenzen, anstatt sie eskalieren zu lassen. 

Die Bundeswehr braucht dringend ein Upgrade

Aus all diesen Gründen ist die Stärkung der Bundeswehr mit 100 Milliarden Euro, wie sie Bundeskanzler Olaf Scholz Ende Februar angekündigt hat, überfällig. In der Debatte dazu wird oft von „Hochrüstung“ gesprochen. Das Bild dazu: Hier wird für einen monströsen Eurobetrag ein Berg an Kriegsgerät aufgehäuft. Die Summe ist in der Tat hoch; allerdings wurde auch über 30 Jahre an der Bundeswehr gespart. Über diesen Zeitraum ist eine Investitionslücke von 90 Milliarden Euro entstanden, so die Rüstungsexperten Christian Mölling und Torben Schütz in einer Analyse für die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik. Somit dient das Sondervermögen vor allem dazu, die entstandenen Lücken zu schließen. Ein Beispiel: Die Landstreitkräfte hatten zum Ende des Kalten Krieges zwölf Divisionen, heute gibt es noch drei. Bei diesen bleibt es laut Bundeswehr-Planung, sie sollen nur vollständig ausgerüstet und gestärkt werden. Wie wichtig ein gut gerüstetes Militär ist, betont übrigens schon das deutsche Grundgesetz: In den meisten Staaten kontrolliert das Parlament das Militär nur über den Wehretat. In Deutschland verlangt die Verfassung von den Abgeordneten, sich direkt mit der bestmöglichen Aufstellung der Bundeswehr zu befassen. Ein Auftrag, der über lange Jahre in Vergessenheit geraten ist und schleunigst wieder ernst genommen werden muss. 

Björn Müller ist Journalist für Sicherheitspolitik und Redakteur bei „Loyal“, dem Magazin des Reservistenverbands der deutschen Bundeswehr. Bis zum Ukrainekrieg war seinem Umfeld seine Beschäftigung mit Militärthemen meist suspekt. Seitdem kommen Bitten wie: „Können wir mal einen Info-Call machen zum diesem Kriegsshit?“

Collagen: Renke Brandt

Nein! Blindes Aufrüsten hilft niemandem

meint Julia Lauter

Es herrscht Krieg in Europa. Der Krieg ist nah, nur acht Autostunden von der deutschen Grenze entfernt. Aber, und das ist wichtig, aktuell ist Deutschland nicht akut bedroht. Wer gegen Aufrüstung in Deutschland argumentiert, sagt nicht, dass ein von einer militärischen Übermacht angegriffenes Land wie die Ukraine sich nicht verteidigen sollte. Oder dass dieses Land bei seiner Verteidigung nicht unterstützt werden sollte. Aber trotz der Nähe ist Kiew eben nicht Berlin. In Berlin wurde jedoch kürzlich eine Grundgesetzänderung beschlossen, die ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro ermöglicht – für Rüstung und die Einhaltung des NATO-Ziels, zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Verteidigungsausgaben bereitzustellen. Der Beschluss fiel, ohne dass es dazu eine breite und tiefgehende Debatte in der Öffentlichkeit gab. Und das ist ein Problem.

Aufrüstung in Deutschland hilft der Ukraine auch nicht weiter

Eine entscheidende Frage ist: Hätte ein besser ausgestattetes Militär in Deutschland den Krieg in der Ukraine verhindert? Die Antwort ist schlicht: Nein. Eine Mitgliedschaft im NATO-Bündnis oder in der EU, die die Ukraine seit langem anstrebt, hätte Russland vermutlich von der Invasion abgehalten – schließlich betrugen die Militärausgaben der europäischen NATO-Staaten schon 2021 rund 338 Milliarden US-Dollar und waren damit gut fünfmal so hoch wie die Russlands. Doch die Militärmacht ihrer westlichen Nachbarn nützt den Ukrainer:innen bis heute wenig, denn Waffenbestellungen für die Bundeswehr bedeuten nicht automatisch Waffenlieferungen an die Ukraine. Den Fehler, dem seit acht Jahren bedrohten Nachbarstaat die Bitten um Beistand und militärische Ausstattung nicht erfüllt zu haben, kann man mit einem milliardenschweren Rüstungspaket für das eigene Militär nicht einfach rückgängig machen.

Schon 2021 gab Deutschland 56 Milliarden US-Dollar für sein Militär aus und hatte damit den siebtgrößten Militärhaushalt der Welt. Die angekündigte Erhöhung der Verteidigungsausgaben – drei Tage nach der russischen Invasion in die Ukraine – ist auch eine Reaktion auf Ängste in der Bevölkerung. Das Sondervermögen soll signalisieren, dass etwas getan, dass Sicherheit hergestellt werden kann. Doch ist das Hochschrauben von Rüstungsausgaben das richtige Mittel?

Militärausgaben werden ineffizient verwendet

Auch Konfliktforscher:innen wie Ursula Schröder vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg sind nicht grundsätzlich dagegen, dass die Bundeswehr besser ausgestattet sein sollte. Die Frage sei, wie viel mehr Geld es dafür brauche, sagt Schröder: Sie würde „lieber von Ausrüstung, nicht von Aufrüstung sprechen“. Denn die vorhandenen Militärausgaben würden derzeit nicht effizient genug verwendet. „In einer idealen Welt käme erst eine nationale Sicherheitsstrategie, dann die Reform des mangelhaften Beschaffungssystems der Bundeswehr und dann zusätzliches Geld“, so Schröder.

Denn nach zahlreichen Skandalen (60.000 Schuss Munition unauffindbar und Millionenverluste durch falsches Management) ist das Vertrauen darauf, dass das Geld bei der Bundeswehr sinnvoll verwendet wird, nicht sonderlich hoch. Oder wie der Fregattenkapitän Marco Thiele vom Bundeswehrverband gegenüber der ARD erklärte: Sollten die bestehenden Prozesse und Strukturen (…) nicht angepasst werden, drohten die 100 Milliarden Sonderinvestitionen zu verdampfen.

Der Trend zu immer höheren Investitionen in Waffensysteme war schon vor dem russischen Überfall auf die Ukraine klar erkennbar: 2021 stiegen die weltweiten Militärausgaben auf den Rekordwert von 2,1 Billionen US-Dollar an, wie das Stockholm International Peace Research Institute bekannt gab. Aus Sicht der Friedensforschung ist das eine besorgniserregende Entwicklung – sollten wir Normalbürger:innen die Aufrüstungseuphorie dann nicht ebenfalls kritisch hinterfragen?

Ob und wie viel Geld ins Militär fließt, muss öffentlich diskutiert werden

Befeuert die Entwicklung das globale Wettrüsten? Was gehört – außer Waffen – zu einer funktionierenden Sicherheitspolitik? Und wie viel des Sondervermögens wird in Zukunft auf diese nichtmilitärischen Mittel verwendet werden? Solche Fragen geraten im Angesicht des nahen Krieges schnell aus dem Blick.

Ein gut aufgestelltes Militär würden auch viele Pazifist:innen nicht kategorisch ablehnen. Dass Investitionen ins Gesundheitswesen, in Bildung und Klimaschutzmaßnahmen hintangestellt werden, aber schon. Darüber, wie das Geld der Bürger:innen verwendet wird, sollte darum nicht nur unter Sicherheitsexpert:innen, sondern in der breiten Öffentlichkeit debattiert werden. Ein Aufrüstungsautomatismus ist keine adäquate Reaktion auf die zahlreichen Krisen unserer Zeit – von Pandemie bis Klimawandel. Denn die können nur zu einem sehr kleinen Teil durch militärische Mittel gelöst werden. Darum sollten wir über Aufrüstung weiterhin leidenschaftlich streiten.

Julia Lauter schreibt als freie Journalistin für Magazine und Zeitungen über Wissenschaft, Umwelt und soziale Bewegungen. Die Forderung, dass Debatten über Sicherheitspolitik nicht nur unter Expertinnen und Experten geführt werden sollten, nimmt sich die studierte Politikwissenschaftlerin zu Herzen.

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