Auf der griechischen Insel Lesbos herrscht – mal wieder – Ausnahmezustand. Bei Minusgraden sind Tausende Menschen in Sommerzelten untergebracht, ohne Elektrizität und mit begrenztem Zugang zu rechtlicher Hilfe und medizinischer Versorgung. Im alten Militärlager Moria, das auf 2.840 Menschen ausgelegt ist, leben fast 20.000 Geflüchtete, darunter viele junge, zum Teil minderjährige. Moria ist Europas größtes Flüchtlingscamp.
Fünf Menschen berichten, wie ihr Alltag dort aussieht und was sie von der Zukunft erwarten:
„Ich bin überzeugt, dass ich das, was ich erlebt habe, aufschreiben muss“
Parwana Amiri (16) aus Herat, Afghanistan
Die Menschen in Europa glauben, dass Geflüchtete diese schrecklichen Erfahrungen durchmachen müssen. Als wären wir aus einem anderen Holz geschnitzt. Dabei kann das Label „Flüchtling“ jederzeit weiterwandern und jemand anderen auf der Welt treffen.
Als ich vergangenen Sommer in Moria ankam, dachte ich: Wenn man jetzt einen Film über unser Leben drehen würde, wäre es der aufregendste Film der Welt. Wir mussten uns ein Zuhause schaffen, zwischen den Olivenbäumen und Tausenden Menschen, die wir nicht kannten. Mit meinen Eltern und zwei Geschwistern wohnte ich in unserem Zwei-Personen-Zelt. Wir hatten keine Elektrizität und mussten die Bäume fällen, um Feuer machen und kochen zu können.
Der Müll stapelt sich zwischen den Zelten und verursacht viele Erkrankungen. Deshalb wollte ich in Moria einen Umwelttag einführen. Einen Tag, an dem wir das Plastik einsammeln und überlegen, wie wir den Abfall reduzieren. Aber dann wurden wir in ein Lager auf dem Festland gebracht, zum Glück. Dort gibt es nicht ständig Messerstechereien, die Kinder können offiziell zur Schule gehen, und wir haben ausreichend zu essen.
Ich bin überzeugt, dass ich das, was ich erlebt habe, aufschreiben muss. Heute bin ich wieder auf der Insel, um mein erstes Buch zu präsentieren. Es sind Erzählungen für Kinder, die während meiner Zeit in Moria entstanden sind. Für mich bedeutet das Schreiben absolute Freiheit. Meine Gedanken kann mir keiner nehmen, egal wo ich leben muss.
„Ohne Sicherheit ist es schwer, an den nächsten Tag zu glauben“
Masiullah Habibzai (17) aus Kabul, Afghanistan
Afghanistan hätte ich für kein Land der Welt eingetauscht. Nicht für Kanada oder Deutschland. Nicht für den schönsten Ort der Welt. Aber ich musste meine Heimat über Nacht verlassen: In Kabul waren wir nicht länger sicher, meine Familie wurde schwer bedroht.
Weil hier im Lager absolutes Chaos herrscht, versuche ich, eine strikte Routine einzuhalten: Jeden Morgen stehe ich um 5.30 Uhr auf und gehe mit Freunden joggen. Deshalb bin ich auch noch nicht krank geworden, glaube ich.
Erst in Moria habe ich verstanden, dass der Mensch keine Elektrizität, nicht mal viel zu essen braucht. Was lebensnotwendig ist, ist Sicherheit. Ohne sie ist es schwer, an den nächsten Tag zu glauben. Sicher fühle ich mich hier nicht. Es gibt Schlägereien und Messerstechereien, jeden Tag, manchmal geht es einfach nur darum, wer eine Steckdose fürs Handyaufladen oder eine Holzpalette für sein Zelt benutzen darf. Oft habe ich Angst, dass meinen Brüdern auf dem Weg zur Essenausgabe etwas zustößt.
Ich komme aus einer guten Familie in Afghanistan. Eigentlich wollte ich in der Wirtschaft Karriere machen, aber diesen Plan habe ich aufgegeben. Ich will mehr für die Menschheit tun. Heute ist mein größter Traum, Naturwissenschaftler zu werden. Jeden Tag forsche ich an meiner wissenschaftlichen Theorie. Ich kann nicht mehr verraten, als dass es um die Umwelt geht und ich dafür leere Wasserflaschen, Erde und Wasser brauche. Ich hoffe, dass ich die Studie, für die ich heute in den griechischen Feldern forsche, einmal an einer Universität weiterentwickeln kann.
„Ich habe so viel Ungerechtigkeit gesehen, dass ich mir nur noch wünsche, Anwältin zu werden“
Fereshte Ebrahimi (17) aus Daikundi, Afghanistan
Sieben Mal haben wir versucht, mit dem Schlauchboot von der Türkei nach Griechenland zu fahren. Immer wieder wurden wir von der türkischen Küstenwache aufs Festland zurückgebracht. Vor einem halben Jahr haben wir es dann nach Lesbos geschafft.
Ein geflüchteter afghanischer Journalist hat eine selbstorganisierte Schule aufgebaut. Ich gebe jeden Tag Englischunterricht, wenn ich mich nicht gerade um meine kranke Mutter kümmere. Sie hat einen großen Tumor. Die Ärzte sagen, dass sie nur in einem Krankenhaus auf dem Festland behandelt werden kann. Aber wir sind auf der Insel gefangen, bis unser Asylprozess abgeschlossen ist. Ich weiß nicht mehr, welcher Wochentag ist, das Warten zermürbt mich.
Manchmal gehe ich in die Olivenbaumfelder, um einfach mal zu weinen. Ich habe in meinem Leben so viel Ungerechtigkeit gesehen, dass ich mir nichts anderes wünsche, als Anwältin zu werden. Bevor ich morgens eine Runde um das Camp drehe, um mich nach der kalten Nacht aufzuwärmen, lese ich manchmal auf meinem Handy in Jura-Büchern. Ich will später Menschen helfen, die in unserer Situation stecken.
„Ich bin jetzt 20 und habe graue Haare. Jeder Tag hier fühlt sich an wie ein Jahr“
Faisah* (20) aus Somalia und Quasay* (20) aus Jemen
Faisah: Gestern sollte ich meine Asylanhörung haben, aber das Interview wurde wieder verschoben – auf September. Wie soll ich hier neun Monate überleben? Wir haben nur ein Laken. Keine Matratze.
Vor drei Wochen wurde einer unserer Freunde erstochen, weil eine Gruppe sein Handy stehlen wollte. Seitdem haben wir große Angst. Bei der Enge fangen die Menschen an, aufeinander loszugehen. Und keiner greift ein. Auch die Polizei kann uns nicht helfen.
Zum Glück habe ich mittlerweile Freunde wie Quasay im Camp, die mir helfen, durch den Alltag zu kommen. Jeden Morgen lerne ich eine Stunde Deutsch oder Französisch. Englisch habe ich ziemlich gut aus amerikanischen Filmen gelernt. Oft gehe ich ins Krankenhaus und übersetze für die Patienten, was die Ärzte sagen. Nur Sprachen bringen uns weiter, weg von hier.
Quasay: Ich bin jetzt 20 Jahre alt und habe graue Haare. Jeder Tag hier fühlt sich an wie ein Jahr. Griechenland ist das Tor zu Europa. Aber hier ist es gefährlicher als an anderen Orten. Im Jemen würden sie mich zum Militär einziehen, und das will ich nicht – aber das hier … Es ist noch schlimmer, als unter ständigen Luftangriffen im Jemen zu leiden.
Meine Mutter ist noch im Jemen. Sie hat mir ein kleines Tuch auf die Flucht mitgegeben, das ich seit meiner Geburt mit mir trage. Immer wenn ich es sehe, kann ich mich entspannen. Sie ruft mich täglich an, macht sich große Sorgen. Obwohl ich ihr nicht viel erzähle, merkt sie, dass es mir nicht gut geht. Ich habe im Moment keinen anderen Traum, als hier rauszukommen.
*Faisah und Quasay baten die Redaktion, ihre Nachnamen und Gesichter nicht zu veröffentlichen.