Thema – Political Planet

Suchen Newsletter ABO Mediathek

Die Revolution erschießt ihre Kinder

Seit Beginn der Studentenproteste im April wurden in Nicaragua mehr als 100 Menschen getötet. Auch in Berlin demonstrierten junge Nicaraguaner. Sie fordern den Rücktritt des Präsidenten

Wenn Sergio Rakotozafy an diesem Sonntagvormittag in Berlin Luftballons steigen lässt, macht er das nicht aus Freude, sondern aus Hilflosigkeit. Der 27-jährige Nicaraguaner ist, wie viele seiner Landsleute, verzweifelt über die jüngste Gewalteskalation in seiner Heimat. 127 Menschen sind laut der Organisation Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (CIDH) seit Mitte April bei Protesten gegen das korrupte und zunehmend repressive Regime ums Leben gekommen, die meisten von ihnen waren etwa in Rakotozafys Alter oder jünger. Studierende wie er selbst, aber auch Jugendliche und Kinder sind unter den Opfern. „Jeden Tag erfahren wir von neuen Opfern. Jeden Morgen wache ich mit Angst um meine Familie auf“, sagt Rakotozafy. In Potsdam schließt er gerade seinen Master ab, täglich erkundigt er sich nach Freunden und Verwandten.

Die Studenten in dem kleinen mittelamerikanischen Land schlossen sich am 19. April protestierenden Rentnern an, nachdem die Regierung eine umstrittene Sozialversicherungsreform verkündet hatte. Die Regierung wollte die Renten um fünf Prozent kürzen und gleichzeitig die Beiträge für Arbeitgeber und Arbeitnehmer erhöhen. Seitdem verbreiteten sich im Netz unter dem Hashtag #SOSNicaragua Videos, auf denen Polizisten zu sehen sind, die ohne Vorwarnung auf Demonstranten schießen. Oder turbas – regierungsnahe Schlägertrupps –, die von ihren Motorrädern aus Menschen attackieren. Augenzeugen berichten von regelrechten Hinrichtungen. „Die Regierung verhaftet sogar Medizinstudenten, die Verwundete behandeln. Das sagt alles. Diese Repression muss endlich enden“, sagt Rakotozafy. Mit Exil-Nicaraguanern aus neun weiteren europäischen Ländern hat er deshalb die Soli-Gruppe SOSNicaragua gegründet. 

Die Gewalt eskalierte auch zwischen Demonstranten und Gegendemonstranten und forderte Opfer auf beiden Seiten. Unter den Toten befinden sich ebenfalls Polizisten und Zuschauer. Nicht alle Quellen lassen sich überprüfen, und unabhängige Zahlen sind schwer zu finden. Die Regierung gibt wesentlich weniger Tote an. Was nicaraguanische Journalisten, Menschenrechtler, Geistliche und einfache Bürger dieser Tage jedoch dokumentieren, verdichtet sich zu einer scharfen Anklage gegen die Regierung des früheren Guerilleros Daniel Ortega, der sich als Regierungschef zum Autokraten wandelte und für seinen Machterhalt keine Rücksicht auf Menschenleben zu nehmen scheint. Ortega selbst nennt die Demonstranten „kriminelle Banden“. Unter ihnen finden sich Menschen aus allen Teilen der Bevölkerung, auch Bauern und Unternehmer demonstrieren.

„Das Einzige, was uns bleibt, ist, unsere Stimme gegen das Unrecht zu erheben“ 

Für ihren Hilferuf haben sich Sergio Rakotozafy und nicaraguanische Studierende am Brandenburger Tor in Berlin verabredet. Am Sonntag werden sie dort die Namen ihrer toten Kommilitonen aus Managua, Bluefields, Jinotepe oder Masaya vorlesen. Rund 300, schätzt Rakotozafy, werden insgesamt kommen. Aus Berlin, aber auch aus Köln, Hamburg, Leipzig, Halle und Frankfurt. Sie alle eint das Ohnmachtsgefühl, ihrem Land von Deutschland aus nicht helfen zu können. „Das Einzige, was uns bleibt, ist, unsere Stimme gegen das Unrecht zu erheben“, sagt Rakotozafy. Nur einen kurzen Moment – wenn die Luftballons gen Himmel steigen – soll es still sein. Danach wollen sie lautstark jene Forderungen wiederholen, die seit anderthalb Monaten auf den Straßen Nicaraguas zu hören sind: das sofortige Ende der staatlichen Unterdrückung, ihre unabhängige juristische Aufarbeitung sowie vorgezogene Neuwahlen. An die europäischen Regierungen stellen sie keine Forderungen. 

 

Präsident Daniel Ortega hat indes trotz harter Kritik aus dem In- und Ausland bereits klargemacht: Er will im Amt bleiben, bis 2021. Der einstige Guerillero mit dem Schnauzbart, der vor knapp 40 Jahren mithalf, den damaligen Diktator Anastasio Somoza Debayle zu stürzen und aus der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (FSLN) eine politische Partei zu machen, klammert sich heute selbst mit allen Mitteln an die Macht. Nachdem er von 1985 bis 1990 schon einmal gewählter Staatspräsident war, ist er nun seit elfeinhalb Jahren ununterbrochen an der Spitze. Um eine dritte Amtszeit in Folge regieren zu dürfen, was laut Verfassung illegal ist, setzte er mithilfe der Gerichte am Parlament vorbei seine Kandidatur für die Wiederwahl durch. Mittlerweile ist er in seiner vierten Amtszeit. Seine Ehefrau hat er zur Vizepräsidentin gemacht. Sie kontrolliert – mithilfe ihrer Söhne – einen Großteil der Fernseh- und Radiosender. Kritiker werfen Ortega vor, eine Dynastie aufzubauen, unabhängige Stimmen einzuschüchtern und sich selbst zu bereichern. Die Regierung bestreitet das.

„Als ich im Studium von Menschenrechten und der Idee des Rechtsstaats gehört habe, hat sich mein Bild von der sandinistischen Revolution geändert“  

Die Missachtung demokratischer Spielregeln ist ein Grund dafür, warum sich der Protest so schnell ausbreitete, glaubt Michelle Chávez. „Die Leute sind müde von Ortega und seiner Herrscherclique.“ Die 29-Jährige studiert Politikwissenschaft in Deutschland, vorher hat sie in Nicaragua Jura studiert. „Ich bin mit einem positiven Bild von der sandinistischen Revolution groß geworden“, sagt Chávez. „Aber als ich im Studium von Menschenrechten und der Idee des Rechtsstaats gehört habe, hat sich mein Bild geändert.“ Auch Chávez ist in der Gruppe SOSNicaragua aktiv. Anfangs war sie nur fassungslos über die Gewalt von Polizisten und Regierungsanhängern, mittlerweile ist die Studentin „enorm wütend“ über die Doppelzüngigkeit des Regimes.

„Stell dir vor, der Präsident spricht an einem Ende der Stadt von Liebe, während er seine Polizisten am anderen Ende auf Mütter, Kinder und Alte schießen lässt.“ Am Día de las Madres, dem Muttertag am 30. Mai, marschierten die „Mütter der Opfer der Repression“ durch die Hauptstadt Managua, um Gerechtigkeit für ihre getöteten Kinder zu fordern. An dem Abend, an dem sich Ortega von seinen Anhängern feiern ließ, starben im ganzen Land mindestens 15 Menschen, 79 wurden verletzt. Das Schlimmste sei, dass die Regierung auch noch zu verschweigen versuche, was im Land vorgeht: Am 19. April, einen Tag nach Ausbruch der Proteste, nahm Ortega die beiden verbliebenen unabhängigen Fernsehkanäle vom Netz. Zwei Wochen später steckten Regierungsanhänger einen Radiosender in Brand – angeführt von einem Abgeordneten der Regierungspartei FSLN. Der Besitzer des Radiosenders spricht von Staatsterrorismus.

Obwohl die Regierung die Rentenreform inzwischen zurückgezogen hat, dauern die Proteste auf der Straße an. Es gibt Stimmen, die Präsident Ortega verteidigen. Sie scheinen jedoch immer weniger zu werden. Vor allem Anhänger der regierungsnahen Sandinistischen Jugend machen gegen die Demonstranten mobil, zum Teil auch mit Gewalt. Vergangenes Wochenende forderte der Chef der mächtigen nicaraguanischen Wirtschaftskammer COSEP den Präsidenten auf, sein Amt „so schnell wie möglich niederzulegen“ und 2019 Neuwahlen zuzulassen. „Ortega ist isoliert“, sagt Sergio Rakotozafy. Dass ein Dialog stattfinden wird, bezweifelt er aber. Dazu haben schon Menschenrechtsgruppen, Nachbarstaaten und zuletzt der Papst aufgerufen – ohne Erfolg. „Das Einzige, was die Gewalt beenden kann, ist ein landesweiter Nationalstreik“, glaubt Rakotozafy. Wenn Ortega nicht zur Vernunft kommt, drohe Nicaragua eine zweite jahrzehntelange Diktatur – und möglicherweise eine zweite blutige Revolution.  

Titelbild:  INTI OCON/AFP/Getty Images

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.