fluter.de: Auf YouTube findet man unzählige Videos mit dem Titel „Was ist dein Outfit wert?“. Stimmt der Eindruck, dass Jugendliche sich zurzeit verstärkt für luxuriöse Mode interessieren?
Sabine Resch: Die Faszination, die von Luxusmarken ausgeht, spüren auch Jugendliche, wobei das immer auf die jeweilige Peergroup ankommt, also die Gruppe, zu der man sich zugehörig fühlt. Was ich aber interessant finde, ist, dass in diesen Videos häufig Luxusmarken mit Fast Fashion gemischt werden, zum Beispiel mit Marken wie Zara oder mit Secondhandklamotten.
Was ist daran bemerkenswert?
Hier sieht man, wie pluralistisch die Modewelt geworden ist. An Mode konnte man lange Unterschiede ablesen – eine Trennung der Klassen zum Beispiel oder der Geschlechter. Diese Grenzen lösen sich in der Mode immer mehr auf. Es ist ja auch nicht mehr so klar, dass derjenige, der eine Luxusmarke trägt oder einen Mercedes fährt, auch in einer Luxuswohnung wohnt.
Aber wie kommt es, dass Luxusmarken bei Jugendlichen präsenter zu werden scheinen?
Luxusmarken fingen bereits in den Achtzigerjahren an, auch für Kinder und Jugendliche zu produzieren. Die Kinder der Luxuskundin sollten später auch mal dieselbe Marke kaufen wie ihre Mutter. Das ist eine gängige Strategie: Alteingesessene Männermodehäuser zum Beispiel haben irgendwann Frauenmode produziert, um sich neue Zielgruppen zu erschließen. Und nun halten die Jugend und ihr Streetstyle endgültig Einzug in die Luxusmode.
Was will diese neue Kundschaft?
Heranwachsende sind von Statussymbolen fasziniert, aber das ist nicht neu. Jugendkulturen drücken ihr Lebensgefühl über Musik und Mode aus und verändern sich ständig. In der Bronx trug man zum Beispiel zu Beginn der Hip-Hop-Bewegung Schuhe ohne Schnürsenkel und eine Hose ohne Gürtel – die Baggy Pants – aus Solidarität zu den Kumpels, die im Gefängnis saßen. Denen wurden dort die Gürtel und die Schnürsenkel abgenommen, um Suizide zu vermeiden. Später ist eine ganze Industrie daraus entstanden.
Das hat mit der heutigen Hip-Hop-Szene nicht mehr viel zu tun, oder?
Die Bewegung hat sich ins Gegenteil verkehrt. Kanye West zum Beispiel macht Hip-Hop und Klamotten. Die werden unter anderem vom Designer Virgil Abloh entworfen, dessen Label Off-White bei jungen Leuten gerade sehr angesagt ist. Abloh ist mittlerweile auch Chefdesigner für die Männerlinie von Louis Vuitton. Damit ist es offiziell: Streetstyle gehört zur Luxusmode.
In Deutschland rappt zum Beispiel Veysel über Schuhe der Luxusmarke Balenciaga. Dessen Chefdesigner, Demna Gvasalia, hat mit seinem Label Vetements vor ein paar Jahren ein gelbes T-Shirt mit rotem DHL-Schriftzug rausgebracht. Preis: 245 Euro. Was ist da passiert?
Hier hat eine sogenannte Kontextüberschreitung stattgefunden. Der Begriff stammt aus der Kunst. Marcel Duchamp hat 1917 ein handelsübliches Urinal ausgestellt und zur Kunst erklärt, also den eigentlichen Kontext des Objekts überschritten. Die Kontextüberschreitung hat auch längst in der Mode Einzug gehalten. Streng genommen war ja schon der Sakkoanzug mit Hemd und Krawatte für die Frau eine solche: Ein Outfit, das über Jahrzehnte nur der geschlossenen Welt der Geschäftsmänner vorbehalten war, wurde plötzlich von einer ganz neuen Bevölkerungsgruppe getragen. Bei dem DHL-Shirt wurde mit dieser Strategie etwas Banales ins Luxuriöse gehoben und damit kommerzialisiert.
Glauben Sie, die Leute, die das T-Shirt tragen, verstehen das?
Parallel zu der Verschiebung vom Gegenständlichen ins Abstrakte in der Kunst haben wir bei der Mode auch eine Verschiebung vom einfach Erklärbaren zu Entwürfen, die dechiffriert – also entschlüsselt – werden müssen. Ich fürchte, viele wissen nicht, was sie da tragen. Ihnen geht es nicht ums Dechiffrieren, sondern sie wollen es einfach haben, weil es cool und angesagt ist, und fertig.
Da wir gerade beim Dechiffrieren sind: Kann man auch den Bildungshintergrund an der Klamotte ablesen?
Geschmack und Stil können sich im wahrsten Sinn des Wortes bilden. Aber wer sich nur mit teuren Luxusmarken zuhängt, ist noch lange nicht stilvoll gekleidet oder gar gebildet. Es gibt im Gegenteil die These: Je gebildeter, desto zurückhaltender im Stil. Ich denke, das stimmt häufig. Wobei zurückhaltend nicht bedeutet, nicht an Luxusmode teilzunehmen. Es bedeutet nur, sich nicht das totale Bling-Bling auszusuchen.
Man könnte sich ja theoretisch auch eine Welt vorstellen, in der Marken keine Bedeutung mehr haben. Wäre die besser?
Marken sind ja nicht per se schlecht. VW hat beispielsweise den Käfer produziert, ein demokratisches Auto, und den Porsche, ein Luxusauto. Eine Marke muss also nicht gleich Luxus bedeuten. Es wird wohl keine Welt mehr ohne Marken geben. Zumindest dann nicht, wenn Marken mit Qualitätsbewusstsein einhergehen.
Nun wird ja gerade gesellschaftlich auch viel über Klimaschutz, Minimalismus und Konsumverzicht diskutiert. Wie passt das mit dem Interesse an Luxusmarken zusammen?
Klimaschutz und Minimalismus, beispielsweise in Form der Ordnungsratgeber von Marie Kondo, sind eine große Bewegung unserer Zeit, aber nicht die einzige. Stile, Trends und Lebensführungen sind heute so pluralistisch wie nie. Nicht jeder mistet ja aus und lebt dann minimalistisch. Manche misten auch nur deshalb aus, um Neues zu kaufen.
Kann man denn ökologisch bewusst leben und an Luxusmode teilhaben?
Dazu muss man die „Angebermarken“ – für mich zum Beispiel Philipp Plein – von den Marken unterscheiden, die ich die „stillen“ Marken nenne. Die pflegen eher ein Understatement, und hier kann ein Mantel auch 20 Jahre halten, weil er qualitativ hochwertig in Material und Herstellung und zeitlos im Stil ist. In der Luxusmode gibt es zudem längst auch wirklich nachhaltige Labels, wie beispielsweise Stella McCartney, Gabriela Hearst oder aus München Allude, die in ihrer Cashmere-Klinik Pullover reparieren.
Hat die Lust am Luxus eigentlich auch etwas mit den gesellschaftspolitischen Umständen zu tun, in denen die Menschen leben?
Die Autorin Silvia Bovenschen hat bereits in den Achtzigerjahren geschrieben: Mode ist ein Krisenthema. Das heißt, wir fangen wieder mehr an, über Mode zu sprechen, wenn wir uns in Krisen- und Umbruchzeiten befinden. Das Glamouröse in der Mode am Ende der 1920er-Jahre etwa lässt sich mit einer „Jetzt erst recht“-Haltung erklären. Das bildet derzeit die Serie „Babylon Berlin“ übrigens gut ab, in der die Grundstimmung ja aus Fatalismus und Feiern besteht. Ich beobachte so etwas in der Art heute auch. Klimawandel, Pandemie, neu aufkommender Nationalismus – unsere Zeit ist von großen Herausforderungen geprägt. Und die Jugendlichen in den YouTube-Videos sind mit ihren Luxusmarken vielleicht auch ein Anzeichen dafür.
Sabine Resch ist Professorin für Modejournalismus an der Akademie Mode und Design in München.