fluter: Wir haben uns natürlich Gedanken gemacht, was wir zum Interview anziehen. Gleichzeitig haben wir darüber nachgedacht, dass es auf keinen Fall so wirken darf, als hätten wir uns diese Gedanken gemacht. Unterscheiden solche Überlegungen Mode von Kleidung – also vom bloßen Erwägen, wie ich mich zum Beispiel gegen Regen schütze?
Diana Weis: Das könnte man sagen. Ich persönlich bin aber kein Fan davon, zwischen Mode und Kleidung zu unterscheiden. Es gibt keine Kleidung, die ganz frei ist von modischen Aspekten. Wenn man sich eine Regenjacke anzieht, möchte man trotzdem, dass sie einem gefällt und man sich gut darin fühlt. Und Schutz bedeutet nicht nur Schutz gegen Witterung, sondern auch vor der Unfreundlichkeit der Welt und letztlich vor den Blicken der anderen.
Zieht man sich für die anderen an?
Das kann man nicht trennen. Wir sind soziale Wesen, wir gucken andere Leute an und bilden uns eine Meinung über sie. Es gilt zwar als oberflächlich, Menschen als Erstes aufgrund ihres Aussehens zu bewerten, aber so sind Menschen nun mal. Und es ist ja auch eine Form der Höflichkeit, gepflegt aufzutreten. Man kann nicht einfach ignorieren, was die anderen Menschen denken.
„Die Deutschen lieben ihre Funktionskleidung, wobei die Funktion oft als Entschuldigung dafür herhalten muss, dass man viel Geld ausgibt“
Seit der Corona-Pandemie arbeiten viele im Homeoffice und fühlen sich in der Jogginghose am wohlsten. Wird das bleiben?
Die Umsätze von bequemer Kleidung sind enorm gestiegen, während bei anderen Modeunternehmen die Umsätze massiv einbrechen. Aber hoffentlich kann man die Jogginghosen bald wieder ausziehen, wenn ein normales Leben wieder möglich ist.
Dennoch: Zum deutschen Klischee gehört, dass man sich eher vernünftig als schick kleidet.
Die Deutschen lieben ja Funktionskleidung, wobei die Funktion auch oft als Entschuldigung dafür herhalten muss, dass man viel Geld ausgibt. Nach dem Motto: Die Jacke war zwar teuer, aber die bietet dieses und jenes Feature und ist aus Hightechmaterial. Wenn ich aber einfach nur sage: „Ich finde die Jacke schön, und sie steht mir gut“, wird die Investition gleich kritischer gesehen.
Noch mal ein paar Jahrhunderte zurück: War die Mode früher nur etwas für den Adel und die Königshäuser?
Ja, das waren diejenigen, die schöne Kleider und Schmuck trugen und die geglänzt haben. Die hatten ja nicht die besseren Gene, die sie besser aussehen ließen, das war schon der Reichtum.
Inwieweit hat Kleidung in einer ständischen Gesellschaft eine Rangordnung verdeutlicht?
In der Ständegesellschaft wurde der Wert eines Menschen durch seine Geburt bestimmt. Eine Vorstellung von Individualität im heutigen Sinne gab es nicht. Aber gerade deshalb war es für die herrschende Klasse so wichtig, schon auf den ersten Blick unerreichbar strahlend und prächtig zu wirken. Das verdeutlichte den Abstand zum Fußvolk und diente so mit als Machtlegitimation.
Gab es eigentlich auch mal Kleiderverbote?
Immer wieder. Das fing schon in der Antike an und setzte sich im europäischen Mittelalter fort. Dabei ging es meistens um Status, Geschlechter- oder Religionszugehörigkeit. Aber auch um das revolutionäre Potenzial von Kleidung: Nach Erscheinen von Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ wurde zum Beispiel Ende des 18. Jahrhunderts die „Wertherkleidung“ in einigen deutschen Städten verboten. Heute haben wir die Diskussion um das sogenannte „Burka-Verbot“ oder um das Kopftuchtragen. Historisch kann man aber sagen, dass solche Verbote sich nie für längere Zeit durchsetzen konnten, und das ist auch gut so.
Auch schick
Eigentlich erstaunlich, wie selten Männer luftige Frauensachen tragen – und was passiert, wenn sie es tun
Gibt es heute noch einen Dresscode für die Oberschicht?
Schwierig. Natürlich weiß jeder, welche Designer Stars und Prominente tragen, und viele versuchen, diesen Look nachzuahmen. Aber die echte Oberschicht, also Menschen, deren Familien seit Generationen über Reichtum und politischen Einfluss verfügen, kleiden sich eher unauffällig.
Früher haben sich der Adel und die Königshäuser sehr extrovertiert gekleidet: mit Perücken, mit pompösen Kleidern, zierlichen Schuhen. Wann kam da eigentlich der Bruch?
Den gab es am Ende des 18. Jahrhunderts, als das Modeverhalten genutzt wurde, um politisch Stimmung gegen den Adel zu machen. Plötzlich galten die parfümierten, Perücken tragenden Höflinge als verdorben. Das Gegenbild dazu war der echte, unverstellte Bürger. Als das Bürgertum erwachte, wurden also auch neue Körperbilder und Geschlechterideale geschaffen.
Für beide Geschlechter?
Vor allem für den Mann. Die Frau steckt ja in gewissem Sinne bis heute im höfischen Zeremoniell fest – zumindest wenn man sich das Schaulaufen bei festlichen Events ansieht, bei denen etwa Schauspielerinnen ihre aufwendigen Kleider präsentieren. Für den Mann hat sich der Anzug durchgesetzt als überindividuelles Kleidungsstück, mit dem man tatsächlich keine nähere Aussage über sich trifft – außer dass man eben ein Mann ist und einen gewissen Status hat. Der Mann hat jetzt 250 Jahre darauf verzichtet, sich zu schmücken.
Da klingt Enttäuschung durch. Möchten Sie Perücken im Bundestag?
Warum nicht? Natürlich müssen Berufsgruppen, die viel Verantwortung tragen wie Politiker und Politikerinnen, den Eindruck vermeiden, zu viel Zeit und Energie auf ihr Äußeres zu verwenden. Grundsätzlich würde ich mir aber wünschen, dass das Sich-schön-Machen weniger belächelt, sondern als kreative Arbeit am Selbst anerkannt wird.
Können Sie sich vorstellen, dass es mal normal wird, dass Männer Kleider tragen?
Ich würde es mir wünschen. Als der Schauspieler Billy Porter in einem Smokingkleid zur Oscarverleihung kam oder Jared Leto im Gucci-Kleid zu einer Gala, dachte ich: Jetzt ist es so weit, dass Männer diesen Black-Tie-Code aufbrechen. Leider war es im Jahr darauf schon wieder vorbei. Es wäre schön, wenn möglichst viele Männer merken würden, dass sie sich der Möglichkeiten berauben, sich mal anders zu zeigen.
Hat das auch damit zu tun, dass es eine Art symbolischen Machtzuwachs bedeutet, wenn Frauen Männerkleidung tragen, während Männer in Frauenkleidern vermeintlich eher Schwäche zeigen?
Bestimmt. Aber genau da muss sich was ändern. Das ist auch meine Kritik an bestimmten feministischen Positionen. Ich finde nicht, dass Frauen unbedingt Männersachen tragen müssen, um mehr Gleichberechtigung zu erlangen – oder dass es unfeministisch ist, sich mit Mode zu befassen, wie es mir schon oft vorgeworfen wurde. Das sind auch wieder nur Stereotype.
„Wenn die Mütter in Skinny Jeans rumlaufen, ist es schwer, sich durch Mode abzugrenzen“
Wäre es nicht erstrebenswert, sich vom Modegeschmack zu emanzipieren? Wie findet man seinen eigenen Stil?
So etwas wie persönlichen Geschmack gibt es nur ganz bedingt. Die persönlichen Präferenzen sind immer ein Ergebnis von dem, womit wir den ganzen Tag berieselt werden. Es kommt ja zum Beispiel vor, dass man etwas beim ersten Sehen komisch findet, wenn man es dann aber zum hundertsten Mal sieht, hat man sich schon daran gewöhnt und findet es vielleicht gar nicht so schlecht.
Aber kommt denn mit zunehmendem Alter kein eigener Stil zustande?
Zumindest hat man mit zunehmendem Alter schon vieles mitgemacht und weiß eher, was einem steht und was nicht. Deswegen ist diese Käufergruppe für die Unternehmen auch eher uninteressant, weil sie nicht mehr so leicht zu überreden ist. Die Trends werden für jüngere Leute gemacht, wobei die Zielgruppe zwischen 25 und 29 die spannendste ist.
Die ist ja in Deutschland nicht allzu groß angesichts der zunehmenden Überalterung der Gesellschaft …
Richtig. Deswegen gibt es viele Sachen, die auf den Geschmack junger Millenials weltweit zugeschnitten sind. Das ist die umsatzstärkste Zielgruppe. Ein anderer Effekt des Fokussierens auf junge Kunden ist, dass ständig alles wiederkommt, sich also ein Revival ans nächste reiht. Da machen viele Ältere nicht mehr mit, weil die das alles schon mal im Original erlebt haben.
Kann man denn überhaupt noch was Neues erfinden? Es war doch irgendwie alles schon mal da: Schlaghose, Minirock, High Waist, Low Waist …
Ich glaube, man kann sich immer etwas ausdenken, was noch nie da war. Das eigentlich Neue liegt aber heute darin, dass viele Stile nebeneinander existieren und viel mehr Menschen die Möglichkeit haben, an Mode teilzuhaben. Klar ist es befremdlich, wenn bei Primark die Shirts nur ein paar Euro kosten – aber durch billige modische Kleidung ist für viele Menschen, die nicht so viel Geld haben, ein Stigma weggefallen. Allerdings ging die Demokratisierung der Mode leider Hand in Hand mit Fast Fashion.
Andererseits haben durch die Corona-Krise viele Menschen gemerkt, dass man gar nicht ständig kaufen muss.
Absolut, weil viele zu Hause ausgemistet und gemerkt haben, was da alles im Schrank hängt und wie viel man mal wieder tragen könnte. Auch bei Portalen wie Kleiderkreisel, wo getragene Sachen gehandelt werden, ist das Angebot extrem groß geworden.
Seit einiger Zeit sind unförmige Turnschuhe oder klobige Sandalen beliebt. Was wollen die uns sagen?
Es geht immer um Codes und die Frage: Wer kennt sie, wer kennt sie nicht? Eine goldene Rolex ist ein Code, den jeder versteht. Jeder weiß, dass die teuer ist. Aber dann gibt es eben raffiniertere Codes, die man nicht gleich versteht, die eben nur was für Eingeweihte sind. So war es auch bei den Ugly Sneakern.
Spielt auch eine Rolle, dass man quasi über den Mut zur Hässlichkeit eine Avantgarde bilden kann, von der viele sagen: „Das ist mir echt zu krass“?
Das ist natürlich ein Privileg der Jugend und junger Körper. Dass man so selbstbewusst ist und sagt: „Ich sehe auch in hässlichen Sachen noch gut aus.“ Zum anderen geht es auch um Ironie. Die Hipster haben damit angefangen, ironische Kleidung zu popularisieren. Sie haben T-Shirts von Bands getragen, deren Musik sie gar nicht gut fanden. Früher hingegen waren Band-Shirts ein Kleidungsstück, mit dem man sich extrem identifiziert hat. Es war wichtig, welche Band auf dem T-Shirt stand. Heute ist das egal, wenn man das Logo schick findet.
Wer macht die Codes, von denen Sie sprechen?
Klassisch fand das vor allem innerhalb der Jugendkulturen statt. Man sah halt andere, die sich in einer bestimmten Art kleideten, und ahmte es nach. Klar gab es auch Reize von außen, von Magazinen oder Plattencovern, aber es war schwieriger als heute, dieses Wissen zu haben und sich dann die Kleidung zu besorgen. Heute werden die Codes vor allem von Influencern in Sozialen Medien gesetzt, die dafür bezahlt werden. Lustig finde ich, dass ausgerechnet Authentizität ein Lieblingswort auf Instagram ist.
Auch schick
Für die Tonne? Unsere Autorin ist ihrer Kleiderspende hinterhergereist
Mode war immer auch politisch. Das Outfit der Punks sollte brave Bürger provozieren, Anfang der Achtziger zogen sich Jugendliche Anzüge, Blazer mit Schulterpolstern und Krawatten an, um sich von den Hippies der Sechziger und Siebziger abzugrenzen. Wie ist das heute?
Das war in den Achtzigern eine Hinwendung zum Materialismus. Heute haben wir etwas Ähnliches. Jugendliche, die aus eher liberalen, auch konsumkritischen Elternhäusern kommen, legen plötzlich sehr viel Wert auf Markenklamotten, auf Brands. Es ist ja auch schwer, sich von den Eltern abzugrenzen, wenn der Vater seine alten Punkplatten hört und die Mutter in Skinny Jeans herumläuft. Es sei denn durch Hedonismus und Materialismus.
Aber die Eltern sind doch oft auch materialistisch.
Das ist ein guter Punkt. Wenn es heißt, die Jugend sei so materialistisch, frage ich mich immer, wer es ihnen vorlebt. Wo sind denn die Eltern, die bewusst konsumieren? Die sehe ich auch nicht in so großer Zahl.
Es gibt aber auch Jugendliche, die eher konsumkritisch eingestellt sind und sich extra „normal“ kleiden.
Ja, es gibt auch viele, die sich engagieren und die das extrem Konsumorientierte in der Mode ablehnen. Auch darin steckt ja was Rebellisches: Wenn man sich die sogenannte Normcore-Bewegung ansieht, ist das eine Absage an das Postulat von Individualität und dem Besonderen. Da sagen junge Menschen ganz bewusst, dass sie lieber aussehen wollen wie alle.
Zumindest die körperliche Individualität scheint mittlerweile höher geschätzt zu werden.
Man hat lange über das Outfit geredet, aber wenig darüber, welche Menschen überhaupt darin stecken. Durch die Netzkultur ist ein offenerer Blick auf den Körper entstanden. Es wird eine größere Vielfalt von Körpern gezeigt, seien es nun People of Color oder Menschen, die nicht in Größe 36 oder 38 passen. Wenn die nun Skinny Jeans tragen, ist das ja auch ein politisches Statement, nämlich gegen diese extremen Schönheitsideale, die es über Jahrzehnte gab.
Momentan hat man den Eindruck, dass große Konzerne einfach den Schalter umlegen und verstärkt Werbung mit People of Color machen. Wie glaubwürdig ist das?
Wenn Konzerne jetzt auf mehr Diversität oder Nachhaltigkeit setzen, machen sie das meist, weil sie Umsatzverluste befürchten. Sie springen auf den Zug auf und tun so, als wären sie schon immer megadivers orientiert. Ich kann die Kritik daran verstehen. Andererseits sehe ich das eher positiv, denn es ist ja auch ein Zeichen eines gesellschaftlichen Umdenkens, dass diese Unternehmen merken, dass sie nicht schon wieder fünf große blonde Frauen in Bikinis stecken können. Selbst wenn sie es nur machen, weil sie Angst haben, kritisiert zu werden. Hauptsache, sie machen es.
„Die Verantwortung für Fast Fashion sehe ich eher bei der Politik. Solange Shirts für fünf Euro angeboten werden, wird es auch jemanden geben, der sie kauft“
Wie vertrauenswürdig ist es denn, wenn es plötzlich ein angeblich aus ökologischer Baumwolle und unter fairen Bedingungen produziertes Kleid für 19 Euro gibt?
In den meisten Fällen kann man sich nicht darauf verlassen, was die Konzerne sagen. Es gibt ja eine verwirrende Vielzahl von Siegeln, die Unbedenklichkeit signalisieren, und keiner blickt durch. Wenn man wirklich sichergehen möchte, keine Sachen zu kaufen, die Umweltschäden und Menschenrechtsverletzungen verursachen, muss man sich schon intensiv damit beschäftigen. Aber viele Leute schrecken davor zurück, weil sie ihre Konsumgewohnheiten gar nicht wirklich ändern möchten. Und wenn auf dem Label „Organic Cotton“ steht, fühlt man sich halt gut.
Wie könnte man denn wirklich etwas an den ökologischen und sozialen Kosten der Mode ändern?
Ich bin für eine politische Regulierung. Das wäre wahrscheinlich das Einzige, was nützen würde. Denn die Macht kritischer Konsumenten ist begrenzt, da sehe ich die Verantwortung eher bei der Politik. Solange T-Shirts für fünf Euro angeboten werden, wird es auch jemanden geben, der sie kauft.
Zumal global gesehen viele Menschen gern zum Lifestyle westlicher Kulturen aufschließen wollen …
Wir betrachten das aus einer sehr privilegierten Situation heraus. Wir haben eigentlich alles, und jetzt schränken wir uns zum ersten Mal ein und vergessen dabei, dass Milliarden von Menschen noch nie den Lebensstandard hatten, der uns schon langweilt. Die wollen da erst noch hin.
Dr. Diana Weis ist Professorin für Modejournalismus an der BSP Business School Berlin. Neben textilen Modephänomenen interessiert sie sich für Körpermoden und Schönheitsnormen. Im März 2020 erschien ihr neues Buch „Modebilder“.