Thema – Körper

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Der Körperkult der Nazis

Die Nazis stellten den Körper ins Zentrum ihrer Ideologie. Durch Zucht, Selektion und Erziehung sollte der „Neue Mensch“ geschaffen werden – und durch massenhafte Ermordung aller, die aus dem Raster fielen. Das Weltbild dahinter war wirr

Wenn Heinrich Himmler, der „Reichsführer SS“ und einer der mächtigsten Männer im NS-Staat, Bauchschmerzen hatte – und das war mitunter mehrmals täglich der Fall –, dann rief er seinen Leibarzt Felix Kersten zu sich, legte sich auf die Liege und ließ sich stundenlang durchkneten, bis alle Krämpfe verschwunden waren. Kersten war der Einzige, der die heftigen Leiden des ranghohen Nazis lindern konnte, und nach Himmlers Überzeugung lag das daran, dass er nicht nur klassischer Physiotherapeut war, sondern sich auch in chinesischen und tibetischen Behandlungstechniken hatte ausbilden lassen. Erstaunlicherweise deckte sich das nur allzu gut mit Himmlers bizarrem Weltbild. Denn auch wenn er, wie alle NS-Ideologen, an die Überlegenheit der „arischen Herrenrasse“ glaubte, versammelten sich darin neben grotesken Rassentheorien, nordischen Mythen und mittelalterlichen Heldenepen auch Versatzstücke fernöstlicher Religionen und Philosophien. So las er die „Bhagavad Gita“, eine zentrale hinduistische Schrift, und interessierte sich für Yoga.

Sie bedienten sich überall, nahmen, was ihnen passte, ließen weg, was ihnen nicht passte

Die Bhagavad Gita ist so etwas wie die Bibel des Hinduismus. Das ist außerordentlich verkürzt ausgedrückt, unpräzise und schrecklich verallgemeinernd – aber in einem Beitrag über den Körperkult im Nationalsozialismus dennoch nicht ganz fehl am Platz, weil diese Aussage in ihrer Mangelhaftigkeit recht anschaulich das Vorgehen verdeutlicht, das die Naziführer an den Tag legten, wenn sie sich etwas aneigneten. Wer den Körperkult der Nationalsozialisten verstehen will, muss auch verstehen, wie sie ihre Ideologie zusammensetzten. Kurz zusammengefasst: Sie bedienten sich überall, nahmen, was ihnen passte, ließen weg, was ihnen nicht passte. Und wenn sie etwas unbedingt haben wollten, was eigentlich nicht passte, dann manipulierten, verzerrten, veränderten sie es so lange, bis es ihren Vorstellungen entsprach. So verfuhr auch Heinrich Himmler, der Chef der SS, mit dem Yoga und der Bhagavad Gita.

Yoga war in Europa zu dieser Zeit kein gänzlich neues Phänomen, sondern nur eine von zahlreichen Strömungen, die sich auf ganz neue Weise mit dem Menschen, seiner Umwelt, seinem Körper und der Natur auseinandersetzten. Naturheilkunde, Vegetarismus, Rohkost- und Vollkornernährung oder auch die aufkommende FKK-Kultur – oft zusammengefasst als „Lebensreformbewegungen“ – galten als Reaktionen auf eine Welt im Umbruch, die in tausend Stücke zu zerspringen schien. Auch Turnen, Fußball und andere Sportarten erfreuten sich großer Beliebtheit, nicht zuletzt deshalb, weil sie Ablenkung boten. Aufklärung, Industrialisierung, Verstädterung und die Evolutionstheorie hatten jahrhundertealte Gewissheiten, Gesellschaftsstrukturen und Glaubenssätze ins Wanken gebracht. Manch einer fühlte sich allein gelassen in einer modernen Welt, die im Ersten Weltkrieg mit Millionen von Toten ihre dunkelsten Schattenseiten gezeigt hatte.

Die Rückbesinnung auf den eigenen Körper, auf die Natur, war da ein naheliegender Schritt und erklärt die Faszination, die fernöstliche Religionen und Philosophien wie Buddhismus, Hinduismus und damit auch Yoga auf viele Menschen ausübten. Denn hier ging es nicht um einen personalisierten Schöpfergott, der von der europäischen Philosophie gerade für tot erklärt worden war, sondern um eine universelle göttliche Kraft, die der Mensch in der Natur und in sich selbst erfahren konnte. Daher legten diese Lehren ein weniger repressives Verhältnis zum Körper nahe und hatten für den Weg der spirituellen Entwicklung sogar unterstützende Körperpraktiken wie Yoga kultiviert.

Die Erschaffung des „Neuen Menschen“ durch Erziehung, Zucht und Selektion – und die Ermordung aller, die in dieses Bild nicht passten

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten kamen all diese Strömungen auf den Prüfstand. Das Prinzip blieb stets dasselbe: Was nützlich war oder ungefährlich für die nationalsozialistische Ideologie, wurde übernommen, beibehalten oder zumindest geduldet; alles andere wurde verboten. So kam es, dass etwa der „Bund für sozialistische Lebensgestaltung und Freikörperkultur“ im März 1933 aufgelöst wurde, nationalsozialistische Nudisten sich aber im neugegründeten „Kampfring für völkische Freikörperkultur“ versammeln konnten.

Wichtig war hierbei die Intention, die hinter einer  Bewegung steckte: Während sozialistische FKKler beim Ablegen von Bekleidung in erster Linie die Gleichheit aller Menschen im Sinn hatten, weil Klassenunterschiede scheinbar verschwanden, wenn alle nackt waren, zielten völkische Nackedeis eher auf die Wiederherstellung eines angeblichen germanischen Urzustandes ab. Auch wenn es bei der FKK-Kultur damals ebensowenig wie heute um Sexualität ging, gab es doch auch Strömungen, die dem nationalsozialistischen Rassenwahn folgten und allen Ernstes glaubten: Wenn eine deutsche Frau öfter mal einen kraftstrotzenden nackten Arier sähe, würde sie sich für exotische Fremdlinge nie mehr interessieren, sondern nur noch für ihresgleichen – und damit zur Erhaltung und Reinheit der „arischen Rasse“ beitragen.

Denn das war der Kern der NS-Ideologie: die Erschaffung des sogenannten „Neuen Menschen“. Der Weg dorthin: Erziehung, Zucht, Selektion – und die Ermordung aller, die in dieses Bild nicht passten. Der Idealtypus des „Neuen Menschen“ war mit dem des „Ariers“ identisch: Groß, blond und blauäugig sollte er sein, vor Kraft strotzend. Oder, wie es Hitler in seiner bekannten Rede in Nürnberg im September 1935 vor rund 54.000 Hitlerjungen ausdrückte: „Flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl.“

Von geistigen Fähigkeiten war da erst einmal nicht die Rede. Tapferkeit, Kraft, Gesundheit, Schönheit, Fruchtbarkeit – das waren die Attribute, auf die es bei der Hitlerjugend, die Teil des Zuchtapparates für den „Neuen Menschen“ war, zunächst ankam. Entsprechend war auch die Ausbildung in den nationalsozialistischen Eliteinternaten gestaltet, den „Nationalpolitischen Lehranstalten“ (Napola), in denen streng nach pseudowissenschaftlichen Rassekriterien ausgewählte Schüler zu solchen „Neuen Menschen“ erzogen werden sollten. An erster Stelle stand die „Charakterbildung“, mit der einzig die bedingungslose Akzeptanz des nationalsozialistischen Weltbildes erreicht werden sollte.

Es ging also nicht um Bildung des Allgemeinwissens, sondern in erster Linie um die Indoktrinierung mit der NS-Rassenlehre. Danach folgte gleich das körperliche Training, das nicht nur auf Kraft und Fitness abzielte, sondern auch – oft auf grausame Weise – auf Abhärtung und Leidensfähigkeit abzielte. Hinzu kamen militärische Übungen und Geländespiele, da die Betonung des Körperlichen nicht zuletzt dem Zweck diente, möglichst leistungsstarke Soldaten heranzuzüchten. Denn Kriege würden ja schon deswegen nötig sein, um „Lebensraum“ für diese „Neuen Menschen“ zu schaffen, was Hitler bereits in„Mein Kampf“ skizziert hatte und als wesentlicher Teil der „Blut-und-Boden-Ideologie“ bekannt geworden war. Die eigentliche Schulbildung in Sprachen und Wissenschaften hingegen stand auf dem Stundenplan an letzter Stelle.

Ein Problem: Das Ideal vom hochgewachsenen, blonden, blauäugigen Germanen traf auf den Großteil der deutschen Bevölkerung gar nicht zu

Auch die Auswahl der SS-Soldaten erfolgte hauptsächlich nach den auf den Körper abzielenden Rassekriterien der NS-Ideologie. Sie beschrieben gewissermaßen den Prototyp des „Neuen Menschen“. Auch hier zeigte sich dasselbe Schema: Was den Nazis gelegen kam, wurde aufgegriffen und umgedeutet. Schnell war auch die Rede vom „Übermenschen“ und der schon erwähnten „Herrenrasse“ – übrigens Begriffe, die von dem deutschen Philologen Friedrich Nietzsche aus dem 19. Jahrhundert stammten, die jedoch mit seiner ursprünglichen philosophischen Argumentation und Intention gar nichts mehr zu tun hatten.

Allerdings gab es ein offensichtliches Problem: Das Ideal vom hochgewachsenen, blonden, blauäugigen Germanen traf auf den Großteil der deutschen Bevölkerung nicht zu, geschweige denn auf den obersten Führungszirkel der NS-Regierung. In einer zeitgenössischen französischen Karikatur hieß es spöttisch: „Schlank wie Göring, blond wie Hitler, groß wie Goebbels.“ Also wurde die „arische Rasse“ seitens der NS-Führung sicherheitshalber noch einmal über ihr vermeintliches Gegenteil definiert: In allererster Linie bedeutete „arisch“ von nun an stets: nicht jüdisch. Indem die Nationalsozialisten die Begriffe „Rasse“ und „Volk“ gleichsetzten, verstanden sie auch das jüdische Volk als Rasse, die sie im Gegensatz zu sich selbst als minderwertig ansahen.

Verstärkt wurden solche Vorstellungen durch Kunst und Kultur. Die berühmte Filmemacherin Leni Riefenstahl entwarf vor allem in ihren bekanntesten Werken „Triumph des Willens“ (1935) sowie den Olympia-Filmen „Fest der Völker“ (1938) und „Fest der Schönheit“ (1938) das Körperbild des perfekten Ariers. Niemand nahm Anstoß daran, dass sie Männer und Frauen darin oft nackt zeigte, sahen diese doch gar nicht mehr wie Menschen aus, sondern eher wie griechische Götterbildnisse oder Helden aus der nordischen Mythologie. Auch die gewaltigen Statuen des Bildhauers Arno Breker und die Gemälde des hinter vorgehaltener Hand als „Reichsschamhaarmaler“ verspotteten Adolf Ziegler transportierten das Ideal einer kraftstrotzenden germanischen Körperlichkeit, die fast immer in pseudoästhetischen Aktdarstellungen daherkam.

Juden wurden in menschenverachtenden Propagandafilmen physisch deformiert, angsteinflößend und hässlich dargestellt

Demgegenüber wurden „Juden“, beispielsweise in menschenverachtenden Propagandafilmen wie „Jud Süß“ oder „Der ewige Jude“, physisch deformiert, angsteinflößend und hässlich dargestellt. Auch Menschen mit körperlichen Behinderungen oder Krankheiten galten in der NS-Propoganda als Gegenstück zum „Volkskörper“ und wurden somit entmenschlicht: Es sollte der Eindruck entstehen, sie seien gar keine Menschen, sondern Ungeziefer, das nicht nur getötet, sondern sogar „ausgerottet“ werden müsse, um die „Reinheit“ und „Hygiene“ der eigenen Rasse zu garantieren. Diese Argumentation legte letztendlich den Grundstein für den Holocaust und die Entrechtung, Verfolgung und Ermordung von Millionen von Menschen in ganz Europa.

Und auch wenn es natürlich vollkommen absurd klingt, so war dies letztlich ein wesentlicher Beweggrund, warum Heinrich Himmler sich für Yoga interessierte. Doch er missbrauchte die Philosophie des Yoga und des Hinduismus, um das Morden nicht nur zu legitimieren, sondern auch spirituell zu untermauern. Es gibt in der Bhagavad Gita einen Vers, der als Rechtfertigung von Gewalt gelesen werden kann:

„Zum Schutz der Guten, aber zum Verderben der Bösen, komm ich mitten unter sie, den Weg zu lehren, der zum Heil führt. (…) Doch kann mein Werk mich nimmer mehr beflecken, ich hege kein Verlangen nach Gewinn.“

Es ist einer von 700 Versen! Und als Rechtfertigung von Gewalt kann man ihn auch nur dann lesen, wenn man ihn wörtlich versteht und nicht als Metapher, wie es die meisten Hinduismus-Experten tun. Himmler war das egal. Seiner eigenen wirren Interpretation der Bhagavad Gita folgend, betrachtete er die SS als eine Art Kriegerkaste, die trotz aller Verbrechen rein bleibe, weil ihr Tun einem höheren Zweck diene.

Der Therapeut Felix Kersten übrigens bearbeitete den „Reichsführer SS“ nicht nur mit seinen Händen, sondern setzte sich während der Behandlungen oft erfolgreich für die Freilassung politischer Gefangener ein. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs soll er dank seiner Kontakte zur schwedischen Regierung dazu beigetragen haben, dass einige Konzentrationslager kampflos übergeben wurden, statt sie zu zerstören. Zehntausende Menschen wurden so gerettet.

Danke für die Beratung an Mathias Tietke, dessen Buch „Yoga im Nationalsozialismus“ in 2. überarbeiteter Auflage 2014 im Verlag Ludwig, Kiel erschienen ist.

Mehr Informationen zum Thema findet Ihr auch auf der Seite der bpb:

Dossier: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg

Info aktuell: 27. Januar – Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus

Dossier: Sprache und Sprachlenkung im Nationalsozialismus

 

Titelbild: picture-alliance / dpa

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