Sich richtig und genau zu erinnern ist schwierig, wenn ein Mensch auf sein eigenes Leben zurückblickt. Es wird noch schwieriger, sobald die Erinnerung etwas betrifft, das man gar nicht selbst erlebt hat. Und am schwierigsten, wenn es um etwas so Monströses geht wie den Holocaust. Der systematische Völkermord an Millionen Menschen sprengt jede Vorstellungskraft und ist schon über 70 Jahre her. Bald wird es niemanden mehr geben, der als Überlebender sagen kann: So unvorstellbar es ist – es ist wirklich passiert, ich war dabei.
Wie aber wird es das Erinnern verändern, wenn es die Stimmen lebender Zeitzeugen nicht mehr gibt?
„Zeitzeugen sind durch nichts zu ersetzen“, sagt Andreas Eberhardt, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft (EVZ), die sich um die Entschädigung von Opfern des Nationalsozialismus, um Versöhnung und Geschichtsvermittlung bemüht. Mithin kein Ersatz, aber ein neuer Ansatz ist für Eberhardt die Verbindung von realer Echtzeit- und digitaler, aufgezeichneter Kommunikation, kurz: Erinnerungskultur 4.0. Eberhardt hat sich im New Yorker Museum of Jewish Heritage das Modellprojekt „New Dimensions in Testimony“ angesehen: Zwei Überlebende des Holocausts gaben auf Hunderte Fragen Antworten und ließen sich dabei filmen. Das Material wurde so aufbereitet, dass nun Museumsbesucher diesen digitalen Zeitzeugen Fragen stellen können. Die aus diesen Filmaufnahmen generierten Avatare erscheinen lebensgroß auf Flachbildschirmen und sampeln aus dem Pool an Auskünften ihrer realen Vorbilder passende Antworten. Eberhardt war beeindruckt: „Man beginnt zuzuhören.“
Die Stiftung möchte dieses neue Format der Zeugenschaft bald auch in Deutschland vor- und damit zunächst einmal zur Diskussion stellen. Dass es Vorbehalte gibt, liegt auf der Hand: Es sind keine echten Menschen, sondern ein Konstrukt aus Avataren und Algorithmen, die einem Antworten vorsetzen. Wie glaubwürdig ist das? Wie manipulativ womöglich? Andererseits sind auch Zeitzeugenberichte, die traditionell gefilmt und geschnitten wurden und werden, nie frei von Intentionen der Macher und auch nicht frei von bewussten oder unbewussten Realitätsverschiebungen der Zeitzeugen selbst. Ob Fotografien oder Filme, persönliche Berichte oder historische Dokumente, ob analog oder digital aufbereitet – Material wird immer zu einem bestimmten Zweck ausgewählt und eingesetzt. Entscheidend ist, wie sorgfältig mit den Quellen umgegangen wird, welche Qualität die Quellen selbst haben. Das war in der Vergangenheit so und wird in der Zukunft so bleiben.
„Wir haben von den Zeitzeugen den Auftrag bekommen, dass Geschichte nicht vergessen werden darf“
Für Eberhardt ist eine wichtige Aufgabe künftiger Erinnerungsarbeit deshalb auch eine Rückbesinnung auf Faktenvermittlung. Die sei, sagt er, in den vergangenen Jahrzehnten durch den Fokus auf Oral History, also mündliche Überlieferungen und Lebensberichte, zu sehr in den Hintergrund geraten. „Wir haben von den Zeitzeugen den Auftrag bekommen, dass Geschichte nicht vergessen werden darf“, sagt Veronika Nahm, Leiterin der Ausstellung und Pädagogik im Berliner Anne Frank Zentrum. Anne Frank ist eine sehr besondere Zeitzeugin der Judenverfolgung. Sie ist vielleicht die weltweit bekannteste, weil sie selbst 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen gestorben ist, der Nachwelt aber ihr berühmtes Tagebuch hinterlassen hat. Von jeher ist Anne Frank für viele Menschen der Nachkriegsgenerationen eine virtuelle Gefährtin, die jeder Tagebuchleser in seinem Kopf auf seine Weise zum Leben erweckt. Und so wird es vermutlich auch in Zukunft bleiben.
Ein Schwerpunkt des Zentrums ist es, Anne Franks Lebenswelt und ihre Träume mit der Welt und den Träumen Gleichaltriger heute in Beziehung zu setzen. Um Geschichte und Gegenwart zu verbinden. Um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu zeigen. Um deutlich zu machen, dass Antisemitismus und Rassismus nicht mit dem NS-Regime für immer untergegangen sind.
Künftig sollen in einer gerade neu konzipierten Ausstellung die Orte eine größere Rolle spielen, an denen Anne Frank lebte. Gerade junge Besucher beschäftige oft, so hat Nahm beobachtet, wie diese Orte heute aussehen, ob und wie dort an Anne Frank erinnert wird. Einen virtuellen Rundgang durch das Haus in Amsterdam, in dem sich die Familie mehr als zwei Jahre lang versteckt hielt, bietet das Zentrum bereits an.
Orte sind kein Ersatz für das, was Menschen berichten, aber auch sie können erzählen. Und weil sie bleiben, gewinnen sie als Zeugen der Vergangenheit noch an Bedeutung.
In Berlin-Kreuzberg ist Ende der 1980er-Jahre – angestoßen auch von Zeitzeugen – das Dokumentationszentrum „Topographie des Terrors“ entstanden, 2010 kam ein Neubau hinzu. Genau an dem Ort, an dem Gestapo und SS ihre Zentralen hatten. In dem flachen Neubau mit Ausstellungsflächen im Erdgeschoss und Bibliothek und Seminarräumen im Untergeschoss steht die Auseinandersetzung mit den Tätern im Mittelpunkt. Es geht um eine sachliche, faktenorientierte Darstellung der Geschichte, weniger eine emotionale. Ohnehin haben Täter selten Auskunft gegeben, erst recht keine, in der sie ihre Schuld er- und bekannt hätten. Zeitzeugen, die bereit sind, ihre Erinnerungen zu teilen, sind fast immer Opfer.
Wenn es um die Zukunft des Erinnerns geht, ist Ulrich Tempel, der Archivar des Dokumentationszentrums, optimistisch. Denn er ist überzeugt, dass es durch die Digitalisierung der Dokumente und Überlieferungen gerade auch für Nichtwissenschaftler immer einfacher und ertragreicher werden wird, die Vergangenheit zu erschließen.
Zeitzeugen, die bereit sind, ihre Erinnerungen zu teilen, sind fast immer Opfer
Parallel verweist Tempel auf „die sekundären Zeitzeugen als eine wichtige Fortsetzung der Zeugenschaft“. Er meint die Kinder, Enkel, Urenkel von Tätern und Opfern, die fragen, forschen und miteinander ins Gespräch kommen. Mehr, als es die Täter und Opfer oftmals selbst vermocht haben.
Der Holocaust ist ein fester Teil der Erinnerungskultur in Deutschland. Die Vorstellungen der Nachgeborenen verändern sich jedoch und laufen Gefahr, sich von realen Geschehnissen und Berichten zu entfernen. Auch die Täter-Opfer-Erinnerungen wandeln sich. Wie sehr, darauf gibt eine Studie Hinweise, an der die Stiftung EVZ mitgewirkt hat. Gut tausend Menschen in Deutschland wurden telefonisch befragt: Erste Befunde ergaben, dass nur wenige ihre Vorfahren als Täter bezeichnen. Lediglich 18 Prozent der Befragten gaben an, in ihrer Familie habe es Täter gegeben, 12 Prozent wussten es nicht, 69 Prozent verneinten. Auf die Frage, ob unter den Vorfahren Opfer des Zweiten Weltkriegs waren, antworteten 54 Prozent mit Ja. Stiftungschef Eberhardt betont, die Studie sei nur ein Schlaglicht und man werte Fragen und Antworten noch aus – unklar ist zudem, wie viele der befragten Menschen damals überhaupt deutsche Vorfahren hatten.
Dennoch: Von denen, die Opfer waren, kann bald keiner mehr Widerspruch erheben oder für Klarheit in Schuldfragen sorgen. Es müssen dann Fakten sprechen. Und Orte. Und vielleicht auch Avatare.
Die Bilder auf dieser Seite gehören zu der Fotoarbeit „The Irreversible“, für die Maciek Nabrdalik und Agnieszka Kulawiak (VII / Redux / laif) Holocaust-Überlebende in der ganzen Welt getroffen und porträtiert haben. Das Titelbild zeigt Selma Engel-Wijnberg, geboren im Mai 1922, eine von nur zwei niederländischen jüdischen Überlebenden des Vernichtungslagers Sobibor. Sie verstarb am 4. Dezember 2018 in den USA.