fluter.de: Sie arbeiten seit Jahren in der Protestforschung. Halten Sie die aktuellen Klimaproteste für legitim?
Simon Teune: Es ist nicht die Aufgabe der Protestforschung, das zu beurteilen. Uns geht es darum, die Proteste und sich anschließende gesellschaftliche Debatten zu beschreiben und zu verstehen. Ob ein Protest als legitim angesehen wird, ist vor allem ein gesellschaftlicher Aushandlungsprozess.
Und? Findet die Öffentlichkeit die Klimaproteste legitim?
Grundsätzlich glaube ich, dass die Dringlichkeit der Klimakrise in der breiten Öffentlichkeit angekommen ist. Den meisten ist bewusst, dass konsequenter Klimaschutz immer wichtiger wird, während wir weit von der Umsetzung notwendiger Maßnahmen entfernt sind. Je länger wir warten, desto wahrscheinlicher werden Kipppunkte innerhalb der Klimakrise, und es kommt zu unumkehrbaren Entwicklungen, die unser alltägliches Leben enorm verändern werden. So gesehen ist die Klimakrise für sehr viele Menschen ein legitimer Grund, mit Protesten zu stören.
Also respektiert die Mehrheit das Anliegen der Proteste, aber nicht die Formen, zu denen die Aktivistinnen und Aktivisten dabei greifen?
Das hängt stark von der jeweiligen Aktion ab: Der Protest gegen das Abbaggern eines Dorfes für den Kohlebergbau wird anders wahrgenommen als die Blockade einer Hauptverkehrsader. Das liegt auch an den transportierten Bildern. In Lützerath haben wir ein hartes Eingreifen der Polizei gesehen und im Hintergrund übergroße Bagger. Der Protest gegen diese wortwörtlich schmutzige Technologie und die Durchsetzung einer strittigen politischen Entscheidung mit Polizeigewalt ist nachvollziehbar. Bei den Straßenblockaden dagegen wird ihr eigentlicher Grund nicht auf den ersten Blick deutlich. Angesprochen werden die Bundesregierung und Konzerne, im Stau stehen aber andere.
„Die Annahme, man könnte mit einer Protestform sofort die Mehrheit überzeugen, ist absurd. Protest bedeutet immer, in den Konflikt zu gehen“
Wäre es denn effektiver, wenn sich die Protestierenden vor Konzern- oder Parteizentralen versammeln, statt eine Hauptverkehrsader lahmzulegen?
Es gab und gibt etliche Proteste vor den Zentralen von Energiekonzernen oder vor dem Kanzleramt. Die werden allerdings kaum wahrgenommen und haben auch keine größeren Veränderungen angestoßen. Deshalb ist die Suche nach neuen Wegen nur logisch. Dazu kommt die Vielschichtigkeit des Themas. Die Klimakrise braucht ein Umdenken im Verkehrssektor, in der Nahrungsproduktion, neue Ansätze beim Wohnungsbau und eine veränderte Energiepolitik – um nur ein paar Bereiche zu nennen. Diese Botschaft wollen viele Klimaprotestierende vermitteln und gehen deshalb in möglichst viele Bereiche unseres täglichen Lebens. Das regt viele Menschen auf.
Radikalisiert sich die Klimabewegung bei dem Versuch, mehr Druck auszuüben?
Ich halte den Begriff der „Radikalisierung“ so, wie er genutzt wird, für unangemessen. Der Protest sucht nach den wunden Punkten der Gesellschaft, sei es der Autoverkehr oder ein Kulturgut, aber er hat klare Grenzen. Wir sehen keine Gewalt gegenüber Menschen, keine Entführungen von Politikern oder Industrievertretern. Ich beobachte eher eine Differenzierung innerhalb der Klimabewegung. Die Letzte Generation geht neue Wege, um die Dringlichkeit des Handelns sichtbarer zu machen. Ihre Aktionen erzeugen starke Bilder und große Aufmerksamkeit. Daneben sind aber Fridays for Future weiterhin aktiv, genauso klassische Umweltorganisationen wie Greenpeace oder der BUND. Mittlerweile engagieren sich auch Gewerkschaften und Kirchen. Gleichzeitig schließen sich die verschiedenen Akteure der Klimabewegung zusammen, wie wir es zum Beispiel bei den Protesten in Lützerath erlebt haben. Die Bewegung erzeugt einen ständigen Strom an Klimastreiks, Vorträgen, an Austausch, sei es, um den öffentlichen Nahverkehr auszubauen oder um die lokale Artenvielfalt zu schützen. Nur findet eben das meiste davon weniger Aufmerksamkeit.
Die Gretchenfrage ist gerade, ob medial präsentere Aktionen wie das Beschmieren von Kunstwerken, wenn auch hinter Glas, wirklich die nötige Aufmerksamkeit für die Klimakrise und das Handeln der Politik erzeugen. Gibt es dazu Studien?
Ja, aber die Studienlage ist nicht eindeutig. Relativ klar scheint, dass solche Aktionen nicht dazu führen, dass die Menschen nichts mehr mit Klimapolitik zu tun haben wollen. Manche Erhebungen zeigen einen schwachen Effekt, dass Menschen nach den Aktionen selbst aktiv werden wollen. Das trifft aber vor allem auf Menschen zu, die sich ohnehin um die Folgen der Klimakrise sorgen. Auf jeden Fall lässt sich auch an den Studien ablesen, dass die Proteste polarisieren.
Diskutiert wird ein „Radical Flank Effect“.
Der beschreibt, dass durch die radikalen Aktionen eines Teils der Bewegung die moderaten Stimmen als Ansprechpartner attraktiver werden. Der Effekt war zum Beispiel auch bei der Bürgerrechtsbewegung in den USA zu sehen: Die radikalen Black Panther sorgten dafür, dass die Regierung in einen Dialog mit gemäßigten Bürgerrechtlern trat und die rechtliche Lage schwarzer Bürger verbesserte. Ich sehe den Effekt bei den Klimaprotesten aber allenfalls schwach, weil Fridays for Future und die Letzte Generation in einem ähnlichen Rahmen agieren. Beide setzen auf zivilen Ungehorsam.
Weiterschauen
Die Doku „Vergiss Meyn nicht“ erzählt die Geschichte des Klima-Aktivisten Steffen Meyn, der im Hambacher Forst verunglückte. Hier sehr ihr unser 100 Sekunden-Interview mit Regisseur Jens Mühlhoff
Sie sprechen die Bürgerrechtsbewegung an. Kann die Klimabewegung von früheren Protestbewegungen lernen?
Die Klimabewegung zehrt von diesen Erfahrungen. Ganz konkret etwa bei der Organisation von Besetzungen wie in Lützerath oder in der Öffentlichkeitsarbeit. Da beginnt die Bewegung nicht bei null, weil erfahrene Aktivist:innen ihr Wissen weitergeben. Das heißt aber nicht, dass es Patentrezepte für Protest gibt. Dafür verändert sich zu viel. Ein einfaches Beispiel: Für die Antiatomkraftbewegung war eine Titelgeschichte in einem Wochenmagazin wichtig, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Heute kann man über eigene Social-Media-Kanäle den Filter der großen Medien umgehen.
Kein noch so breiter Protest wird alle Menschen überzeugen. Müssen wir die Spaltung der Gesellschaft akzeptieren?
Die Funktion von Protesten ist es, Konflikte sichtbar und damit verhandelbar zu machen. Ausgangspunkt dafür ist eine Minderheit, die ein Problem früh erkennt, versucht, es in den Fokus zu rücken, und dabei auch in Kauf nimmt, die Mehrheit gegen sich aufzubringen. Der Letzten Generation ist doch klar, dass sich die Menschen im Stau empören. Damit lenkt sie aber zugleich den Blick darauf, dass diese Menschen selten dieselbe Leidenschaft aufbringen, um sich mit der Klimakatastrophe auseinanderzusetzen oder mit denen, die eine wirksame Klimapolitik ausbremsen. Die Annahme, man könnte mit einer Protestform allein und sofort die Mehrheit überzeugen und einen Wandel ohne Konflikte anschieben, ist absurd. Protest bedeutet immer, in den Konflikt zu gehen.
Der Wandel wird also dauern, der Protest muss zäh sein?
Die Umweltbewegung als Vorläufer der Klimabewegung hat nach langen Auseinandersetzungen immer wieder Teilerfolge erzielt, zum Beispiel den Atomausstieg. Das Problem ist: Die Klimabewegung hat keine Zeit. Es braucht sehr schnell einen tiefgreifenden politischen Wandel.
„Die Klimaaktivisten nerven vielleicht manche, aber angesichts der katastrophalen Klimalage sind ihre Aktionen noch moderat“
Gibt es eine Art Kipppunkt der Zustimmung, an dem ein gesellschaftlicher Wandel wahrscheinlicher wird?
Es gibt keine goldene Formel. Aber Rahmenbedingungen, die einen Wandel wahrscheinlicher machen. Im Fall der Klimakrise bräuchte es zum einen eine breite gesellschaftliche Zustimmung für effiziente, also tendenziell auch unbequeme Maßnahmen gegen die Erderhitzung und zum anderen Entscheidungsträger, die entsprechende Maßnahmen durchsetzen. Aber auch mit beiden Bedingungen ist ein positiver Wandel nicht garantiert: Viele gesellschaftliche Interessen und nicht zuletzt Lobbygruppen arbeiten gegen diese Transformation. Trotz wachsender Zustimmung ist der Wandel in der Klimafrage deutlich schwieriger als bei anderen, „kleineren“ Themen, weil es um viele Politikfelder gleichzeitig geht.
Eine wichtige Frage zum Schluss: Manche Politiker ordnen die Klimaproteste als kriminell oder gar terroristisch ein, sie fordern Haftstrafen oder das Verbot der Bewegung. Das Bundesamt für Verfassungsschutz untersuchte, ob es die Klimaschutzaktivisten der „Letzten Generation“ beobachten muss – und kam zu dem Schluss, dass es dafür aktuell keine hinreichenden Belege gibt. Was bedeuten diese Vorwürfe für die Klimabewegung?
Aus meiner Sicht sind die Forderung nach einer Verfassungsschutzbeobachtung und der Begriff „Klimaterroristen“ nicht mehr als Versuche, Klimaaktivismus für illegitim zu erklären. Diese Debatten sprechen vor allem die Kreise an, die dem menschgemachten Klimawandel und der Letzten Generation ohnehin skeptisch gegenüberstehen. Mit der Realität hat das wenig zu tun. Gewalt gegen Personen ist in der Klimabewegung eine deutliche rote Linie, und die Bewegung appelliert glasklar auf der Basis des Grundgesetzes und bestehender Verträge an die zuständigen Institutionen.
Trotzdem hat die Debatte spürbare Folgen.
Sie polarisiert und hat mittelbar dazu geführt, dass die Auseinandersetzungen bei Straßenblockaden deutlich aggressiver geworden sind. Es gibt jetzt Menschen, die es als legitim ansehen, Protestierende selbst wegzuzerren und anzugreifen. Auch die Polizei geht die Aktivisten deutlich heftiger an als zuvor.
Besteht aus Ihrer Sicht in Zukunft die Gefahr eines Klimaterrorismus?
Die Klimaaktivisten in Deutschland nerven vielleicht einige, aber trotz der katastrophalen Klimalage sind ihre Aktionen moderat und das Konfliktniveau im historischen Vergleich gering. Aber: Wenn die Frustration angesichts einer blockierten Klimapolitik steigt, kann sich das sehr wohl ändern.
Simon Teune ist Soziologe. An der Freien Universität Berlin erforscht er unter anderem, wie Medien Protestanliegen darstellen – wenn Teune dazu kommt: Als Protestforscher ist er seit Wochen ein gefragter Interviewpartner. (Foto: Chris Grodotzki)
Fotos: Sibylle Fendt/OSTKREUZ