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„Ein erfundenes Stück Haut“

So nennt die Autorin Oliwia Hälterlein das Jungfernhäutchen. Hier erklärt sie, warum trotzdem so viele dran glauben wollen

Das Jungfernhäutchen gibt es nicht

fluter.de: „Das Jungfernhäutchen gibt es nicht“, behauptet dein neuer Essay. Trotzdem schwirrt der Begriff überall herum. Was ist dieses Häutchen, Oliwia?

Oliwia Hälterlein: Ein erfundenes Stück Haut, ein Mythos. Mit dem Jungfernhäutchen soll vielmehr eine Funktion einhergehen. Man geht davon aus, dass es eine geschlossene Haut ist, die die Vaginaöffnung versiegelt und anzeigen kann, ob eine Person mit Vagina schon penetrativen Geschlechtsverkehr hatte. Wie eine Frischhaltefolie für Frauen. Aber das ist Blödsinn. Was es in der Vagina gibt, sind Schleimhäute, die beim Penetrationssex einreißen und bluten können, und ein Schleimhautkranz am Eingang, die vaginale Korona. Die sieht bei jeder Person anders aus und hat keine nachgewiesene Funktion.

Trotzdem gibt es sogar operative Eingriffe, die diese Korona wiederherstellen sollen. Wieso glauben so viele so fest an diesen Mythos?

Weil es uns so erzählt wird von Eltern, Freund*innen, in der Schule und den Medien: Es gibt diese Haut, die reißt und schmerzt beim ersten heterosexuellen Sex, durch Tampons oder Sport. Wenn das alle um dich herum glauben, macht es etwas mit dir. Die Vorstellung, dass beim ersten Mal jemand in dich gewaltvoll eindringen muss und was aufsprengt und es reißt und blutet, ist doch ein Horror, oder? Da ist es nur logisch, dass der Körper auf solche Vorstellungen und Ängste reagiert. Viele junge Mädchen haben wirklich Symptome, sie krampfen, es tut weh, vielleicht blutet es. Viele Mädchen erzählen aber auch, sie hätten geblutet, obwohl sie nicht geblutet haben. Sie denken, es stimmt etwas nicht mit ihnen, aber wollen dazugehören. Wie ein vorgegebenes Skript, das erfüllt werden muss.

Wo würdest du ansetzen, um diese Legende abzuschaffen?

In der Schule und Familie, unter Freund*innen und in Büchern, bei der Sprache. Es geht darum, Körperteile richtig zu benennen und zu enttabuisieren. Aus Schamlippen Vulvalippen machen, aufklären, was eine Vagina und was eine Vulva ist. Warum haben wir einen Schambereich und nicht einen Freudenbereich? Was macht diese verbale Beschämung mit uns? Wir sollten andere auch darauf hinweisen, wenn sie Begrifflichkeiten und Themen reproduzieren, die sexistisch sind, und Alternativen aufzeigen. Man könnte denken, das Jungfernhäutchen sei ein Aufklärungsthema für Teenies, aber das finde ich überhaupt nicht. Wenn ich darüber spreche, dass eine Frau eine verschlossene Vagina hat, die von einem Penis geöffnet werden muss – was sagt das über unsere Gesellschaft aus?

„Wir sollten uns fragen, wer etwas vom Mythos des Jungfernhäutchens hat. Und warum es überhaupt so wichtig ist, ob eine Frau Jungfrau ist“

„Das Jungfernhäutchen gibt es nicht“ ist im MaroVerlag erschienen

Was machen diese Vorstellungen mit Männern, die noch keinen Sex hatten?

Bezeichnend ist schon mal, dass es das Wort „Jungmann“ gar nicht gibt. Sexlose Männer werden als schwächere Männer gelesen, eben als Jungfrau, Trottel, Loser, die keine abbekommen haben. Das sagt viel darüber aus, wie Männer als sexuelle Wesen gelesen werden: im Gegensatz zur Frau „aktiv“, mit einer naturgegebenen Libido, die ihn fünfmal am Tag masturbieren und alles vögeln lässt, was nicht fliehen kann. Das kann großen Druck auslösen.

Du untersuchst unter anderem, wie Popkultur unser Bild vom ersten Sex prägt. Hast du dabei Empowerndes gefunden?

Nicht viel. Aber ich kann die Serie „Sex Education“ empfehlen. Da gibt es beispielsweise mal einen Mann, der Angst hat vor dem ersten Mal. Oder die Serie „Chewing Gum“, die den ersten Sex aus der Perspektive mehrerer Figuren thematisiert und entmystifiziert. Überrascht hat mich mit „Willkommen im Leben“ auch eine Serie aus den 90er-Jahren. Da werden die Probleme und Fragen sehr divers und reflektiert dargestellt.

Was kann jeder und jede Einzelne in Bezug auf das Jungfernhäutchen anders machen?

Erst mal sollten wir aufhören, es Jungfernhäutchen zu nennen. Wir können darüber aufklären, dass es in der Vagina Schleimhäute gibt, dass die aber niemals anzeigen, ob eine Frau penetrativen Sex hatte oder nicht. Wir sollten uns fragen: Warum ist es überhaupt relevant zu wissen, ob eine Frau Jungfrau ist oder nicht? Wer hat etwas davon, dass es den Mythos dieses Häutchens gibt? Das betrifft übrigens tatsächlich jede Person, weil es damit zu tun hat, wie wir über Sexualität sprechen, und weil es sexistische Rollen und patriarchale Strukturen reproduziert.

Oliwia Hälterlein ist Kulturwissenschaftlerin und Dramaturgin. Sie organisiert Workshops und Aktionswochen zur sexuellen Bildung und feministischer Pornografie. (Foto: Minz und Kunst Photography)

Illustrationen: Aisha Franz/MaroVerlag

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.