Thema – Generationen

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Kann man schaffen

Schon auch gut, wenn das Leben nicht nur glattgeht, oder? Fragen an einen Jugendpsychiater

Müde

fluter: Herr Hein, was halten Sie vom Sprichwort „Was dich nicht umbringt, macht dich stärker“?

Jakob Hein: Da kriege ich, um es mal fachärztlich zu sagen, das Kotzen. Nach dem Motto kann man bestimmt leben. Aber da schwingt ein „Das hat uns auch nicht geschadet“ mit, das arrogant ist und meist auch einfach falsch.

Ein bisschen Gegenwind ist aber schon auch sinnvoll, oder?

Das Leben besteht schon aus einer Kette an Herausforderungen. Es ist wichtig, dass wir früh lernen, die gelassen anzunehmen. Und weiterzumachen, wenn wir mal etwas nicht schaffen. Wenn jemand nach dem Schulabschluss weiß, wie er Herausforderungen angeht, ist es fast egal, worin die im Leben bestehen. Leider kommen viele aus der Schule, haben zwölf Jahre lang auswendig gelernt und wissen: Ich bin gut in Mathe und Musik. Zeig mir die Stellenanzeige, in der steht: Wir suchen Sie, wenn Sie gut in Musik sind. Wir suchen doch Kompetenzen, Flexibilität, die Lust, sich auf neue Dinge einzulassen.

„Wenn jemand nach dem Schulabschluss weiß, wie er Herausforderungen angeht, ist es fast egal, worin die im Leben bestehen. Leider ist das oft nicht so“

Seit der Antike wird behauptet, dass die Jungen weniger fähig und willens seien. Können junge Menschen heute weniger gut mit Herausforderungen umgehen?

Das ist ein solcher Blödsinn. Als ich 1998 in die Medizin bin, hieß es: unendlich Überstunden machen und sich dafür noch schlecht behandeln lassen. Meine Generation konnte durch Fleiß und Anstrengung ökonomisch aufsteigen. Das war eine gute Erfahrung für mich. Man muss aber ehrlich sagen, dass dieser Aufstieg jungen Menschen heute nur in bescheidenerem Maße möglich ist. Oder gar nicht mehr.

Laut Studien glaubt ein Großteil der Jungen, dass es ihnen in Zukunft schlechter gehen wird als ihren Eltern.

In der westlichen Welt erreichst du Wohlstand nicht mehr über den Job, sondern über ein Erbe. Und in einer Welt der Klimakatastrophe leben wir vermutlich eh von Einschlag zu Einschlag, von Überschwemmung zu Dürre. Warum soll ich mich für eine solche Zukunft in einem wenig aussichtsreichen Job abrackern, wenn ich das Leben genießen kann?

Dieser Text ist im fluter Nr. 90 „Barrieren“ erschienen

Verzweifeln Ihre Patientinnen und Patienten eher an strukturellen Herausforderungen wie der Klimakrise und Kriegen oder an individuellen Problemen?

Viele kommen mit Angsterkrankungen, die durch die Krisen draußen verstärkt werden. Ihr Umfeld kann das kaum mehr auffangen: Man kann Jugendlichen ja nicht ausreden, dass sie Schiss vor der Klimakrise haben oder keine Lust, sich für wenig Aussichten im Job aufzureiben. Das Angstlevel ist hoch unter den jungen Menschen, die ich hier kennenlerne.

Wird bei denen die Angst selbst zum Hindernis?

Zum größten Hindernis. Angst ist erst mal eine natürliche Reaktion auf Ungewohntes. Aber wenn man den Ängsten nachgibt, wachsen sie. Bis man sich gar nichts mehr traut.

Wovon hängt denn ab, ob jemand das Gefühl hat, einer Herausforderung gewachsen zu sein?

Es gibt genetische Voraussetzungen, ist aber vor allem davon abhängig, wie jemand aufwächst. Bekomme ich vorgelebt, dass Herausforderungen positive Lernerfahrungen sein können, dass sie in der Regel zum Erfolg führen? Diesen Erfahrungsraum müsste Schule schaffen, Therapie kann helfen, meist entscheidet aber das Elternhaus. Und damit die Verhältnisse, aus denen man kommt.

Mit Geld sind die Hürden flacher?

Ja. Eine Schule mit kleinen Klassen, das Auslandsjahr, die Mitgliedschaft im Sportverein: alles Erfahrungen, die Biografien nachweislich positiv beeinflussen.

„Vielen Jungs geht es nach wie vor darum, sich selbst zu schaden: ganz viel trinken, zu schnell fahren, den Kopf doll irgendwo dranhauen“

Unterscheiden sich Frauen im Umgang mit Herausforderungen von Männern?

Schon. Meine trans Patienten und trans Patientinnen nehmen diese Geschlechterrollen zum Beispiel sehr stark wahr, weil sie oft noch ihren Platz suchen. Vielen Jungs geht es nach wie vor darum, sich selbst zu schaden: ganz viel trinken, zu schnell fahren, den Kopf doll irgendwo dranhauen.

Und Frauen?

Da geht es oft ums Sein, nicht ums Werden: schön sein, für andere da sein, weniger Risiko eingehen. Ist alles sozialer Quatsch. Aber hartnäckiger Quatsch.

Kann man die Psyche über kleine Herausforderungen bewusst trainieren, um resilienter zu werden?

Absolut. Der Vater einer Kollegin hat ihr immer fünf Mark geschenkt, wenn sie etwas zum ersten Mal gemacht hat. Über den Antrieb Geld müsste man reden. Aber die Haltung bleibt: Toll, dass du dich an Neues wagst. Das fordert auch Eltern heraus: auszuhalten, dass ihr Kind es anders macht als sie. Ohne zu bewerten. Und offen dafür zu sein, dass sie dabei auch dazulernen können.

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Jakob Hein (Foto: ari/IMAGO)
(Foto: ari/IMAGO)

Jakob Hein, geboren 1971, war Oberarzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Charité. Seit 2011 führt er eine eigene Praxis.

Titelbild: Melissa Schriek

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.