fluter.de: Die Erhebung der zweiten „Jugend und Corona“-Studie wurde frühzeitig beendet, weil sich innerhalb kürzester Zeit über 7.000 junge Menschen beteiligt haben. Was glauben Sie, woher kam dieses große Interesse?
Tanja Rusack: Das große Interesse gab es sowohl bei der JuCo1- als auch bei der JuCo2-Studie. Bei anderen Studien haben wir nach zwei Wochen nicht solch einen Rücklauf. Für uns war das eines der Hauptergebnisse und ein Zeichen dafür, dass es kaum Raum für junge Menschen gibt, sich und ihre Bedürfnisse zu äußern. Sie wollten ihre Situation schildern, und das ohne irgendeine Form der Bewertung.
Wie hat sich der Alltag von jungen Menschen während der Pandemie verändert?
Radikal. Allein die sogenannten Kernherausforderungen des Jugendalters: sich selbst zu positionieren, sich mit anderen Jugendlichen in einer Gruppe zu treffen, Freundschaften und Paarbeziehungen aufzubauen, sich auszuprobieren – all das war von heute auf morgen überhaupt nicht mehr möglich. Hobbys wie Sport, die Pfadfinder oder Ähnliches sind ausgefallen. Während der Lockerungen konnte man sich dann zum Beispiel in Jugendzentren zu bestimmten Zeiten mit ein bis zwei Freunden auf Abstand treffen. Aber einfach zu kommen und zu gehen und sich mit vielen zu treffen, das ging nicht. Der psychosoziale Ausgleich fehlte.
„Sehr viele schrieben so was wie: ‚Ich bin hier so allein in meiner Gedankenwelt zu Hause, und die depressiven Stimmungen nehmen irgendwie zu‘“
Zu dem fehlenden Ausgleich kommen neue Herausforderungen. Eine Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf zeigt, dass immer mehr Kinder und Jugendliche sich psychisch belastet fühlen. Was haben die Auswertungen der JuCo-Studien diesbezüglich ergeben?
Wir haben am Ende des Fragebogens immer ein freies Kommentarfeld, das in der Regel selten genutzt wird. Diesmal wurden unwahrscheinlich viele Kommentare geschrieben. Viele berichteten, sie fühlten sich sehr einsam und es ginge ihnen nicht gut, weil die ganzen Kontakte wegfallen. Freundschaften brächen weg, und neue könne man nicht aufbauen. Sehr viele schrieben so was wie: „Ich bin hier so allein in meiner Gedankenwelt zu Hause, und die depressiven Stimmungen nehmen irgendwie zu.“
Zahlen der Barmer Versicherung zeigen, dass die Anträge für Therapien von Jugendlichen gestiegen sind. Macht sich das auch in der JuCo-Studie bemerkbar?
Die zweite JuCo-Studie hat gezeigt, dass junge Menschen vielen Belastungen ausgesetzt sind und sich auch psychisch überfordert fühlen. Andere Studien bestätigen das. Es wird in Zukunft sehr wichtig sein, auch langfristige Maßnahmen zu entwickeln, um die Folgen der Pandemie für junge Menschen mit ihnen gemeinsam aufzuarbeiten. Eine Möglichkeit kann dabei Beratung sein. Es braucht niedrigschwellige Beratungs- und Unterstützungsangebote für junge Menschen mit sozialen Unsicherheiten und in der Übergangsgestaltung.
Psychische Probleme haben oft mit Ängsten zu tun. In der JuCo2-Studie stimmten über 45 Prozent der Befragten der Aussage „Ich habe Angst vor meiner Zukunft“ eher oder voll zu. Welche Ängste sind das?
Es geht viel um Übergangsphasen: von der Schule in die Arbeit, in ein Praktikum, in einen freiwilligen sozialen Dienst, ins Ausland oder ins Studium. Manche hatten Angst davor, keinen Ausbildungsplatz zu finden – in der Hotellerie oder Gastronomie war das zum Beispiel im vergangenen Jahr nicht möglich. Andere haben in den Bereichen Medien und Design gerade angefangen, aber hatten zu Hause nicht die nötige Technik zum Arbeiten, und die Berufsschulen waren geschlossen. Viele junge Menschen haben zudem geschildert, dass ihre Nebenjobs weggebrochen sind und sie deswegen nun finanzielle Sorgen haben.
Nicht jeder kann sich ein Leben ohne Nebenjob leisten oder Ausbildungspläne spontan ändern – und auch vor der Pandemie waren die Bedingungen nicht für alle gleich. Wie steht es seither um die Chancengleichheit?
Die These der JuCo-Studien ist: Wo es vor der Pandemie schon Schwierigkeiten gab – wo junge Menschen oder Familien also bereits wenig Ressourcen oder Unterstützung hatten –, haben sich diese verstärkt. Das gilt auch in der Bildung. Diejenigen, die allein nicht gut lernen können, keine Hilfe in der Familie bekommen, sich keine Nachhilfe leisten können oder denen die Schulsozialarbeit weggefallen ist, haben viel größere Herausforderungen als die mit Ressourcen.
Gab es auch junge Menschen, die von der Pandemie profitiert haben?
Gerade in der ersten Studie haben einige gesagt: „Ich finde das ganz gut, wenn bestimmte Gegebenheiten mal wegbrechen.“ Viele sind von einem Termin zum nächsten gehetzt – langer Schultag, Nachhilfe, Sportverein und andere Engagements. Nun ist es ein bisschen entzerrter. Außerdem haben junge Menschen mit Sozialphobien oder die, die in der Schule unter Mobbing litten, von weniger Druck berichtet.
„Bereits vor Corona waren junge Menschen nicht so richtig einbezogen, sichtbar oder konnten sich nicht leicht mitteilen in der Politik“
In der Studie heißt es: Die junge Generation fühlt sich von der Politik in Zeiten der Pandemie nicht gehört. Wie hätte man junge Menschen mehr beteiligen können?
Bereits vor Corona waren junge Menschen nicht so richtig einbezogen, sichtbar oder konnten sich nicht leicht mitteilen in der Politik. Für uns war es wichtig, darauf hinzuweisen, dass in solch einer Krise alle Perspektiven miteinbezogen werden müssen. Auch die der Jugend. Es gibt bereits Instrumente, die etabliert wurden, um junge Menschen zu beteiligen, von Kinderparlamenten über Jugendparlamente, Jugendhilfeausschüsse, Schüler- und Schülerinnenvertretungen bis hin zum Bundesjugendkuratorium. Aber vieles davon hat einfach gar nicht stattgefunden in der Zeit.
Sowohl in der JuCo1- als auch der JuCo2-Studie betrug das Durchschnittsalter der Teilnehmenden 19 Jahre. Das sind die diesjährigen Erstwählerinnen und Erstwähler. Welche Auswirkungen könnte der Umgang mit jungen Menschen in der Pandemie auf die Bundestagswahl haben?
Starke Jugendbewegungen wie Fridays for Future gab es schon vor der Pandemie. Man hat an ihnen gemerkt, dass Jugendliche sich beteiligen wollen und politische Forderungen haben. Während der Pandemie gab es sehr wenig Aufbegehren von Jugendlichen. Mein persönlicher Wunsch wäre, dass das wieder auflebt – verschiedenste politische Jugendbewegungen mit dem Gefühl von „Wir wollen jetzt mitgestalten, und es muss jetzt mal um uns gehen“. Aber ob das passiert, weiß ich natürlich nicht. Vielleicht ist die Frustration auch zu groß.
Tanja Rusack ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Uni Hildesheim
Es ist also viel verpasst worden in den letzten eineinhalb Jahren. Was sollte die Politik nun tun?
Ich finde es absolut wichtig, dass geguckt wird, wie man Dinge ausgleichen kann. Ein kostenloses Interrail-Ticket, wie es im Gespräch war, wäre eine schnelle Wiedergutmachung. Genau wie Geld für einen Laptop für die, die sich keinen leisten können. Viele junge Menschen haben ein Jahr lang Schule oder ihr Studium nur auf dem Smartphone verfolgt. Es braucht aber auch mittel- und langfristige Perspektiven, zum Beispiel flächendeckend niederschwellige Beratungsangebote. Wir müssen Unterstützungsmöglichkeiten etablieren und schauen, wie wir junge Menschen empowern können.
Titelbild: Hahn&Hartung