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„Jetzt ist es erst recht an der Zeit, sich zusammenzutun“

Ein Untergrundnetzwerk, das Schwangerschaftsabbrüche organisiert: Was klingt wie ein Film, gab es wirklich in den USA der 1960er-Jahre. Ein Gespräch mit der Gründerin des „Jane-Kollektivs“, Heather Booth, über die Lage von Frauen damals und heute

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Heather Booth

24. Juni 2022: Der Supreme Court, der Oberste Gerichtshof der USA, kippt das Grundsatzurteil Roe vs. Wade. Damit war seit 1973 eigentlich das landesweite Recht auf Schwangerschaftsabbrüche bis zu dem Zeitpunkt, zu dem der Fötus außerhalb des Mutterleibs lebensfähig wäre, festgeschrieben. Von nun an dürfen die Bundesstaaten selbst darüber entscheiden, wie streng sie ihre Gesetze hierzu gestalten. In 13 Bundesstaaten sind Schwangerschaftsabbrüche seitdem de facto verboten. Welche Konsequenzen so ein Verbot haben kann, weiß Heather Booth. Als sie 1965 gefragt wurde, ob sie einen illegalen Schwangerschaftsabbruch organisieren könne, sagte sie zu – und trat eine Bewegung los. Booth, die mittlerweile 77 Jahre alt ist, arbeitet bis heute als Aktivistin und Politikberaterin.

fluter.de: Frau Booth, was hat Sie dazu inspiriert, politisch aktiv zu werden?

Heather Booth: Zum einen war da meine Familie: Sie vertrat die Ansicht, dass man die Welt in einem besseren Zustand verlassen sollte, als man sie vorgefunden hat. Zum anderen hat mich meine Zeit in der Bürgerrechtsbewegung in den USA geprägt. Ich bin ihr 1964 als 18-Jährige beigetreten, als ich am „Freedom Summer Project“ teilnahm. Damals wurden Studierende aus dem Norden der USA rekrutiert, um nach Mississippi zu reisen und dabei zu helfen, die Wahlbeteiligung der dort lebenden Afroamerikaner*innen zu erhöhen. Sie wurden in diesem US-Bundesstaat besonders schlecht behandelt. Viele von ihnen trauten sich nicht, zur Wahlurne zu gehen, weil sie massiv eingeschüchtert oder bedroht wurden. 

War das Projekt ein Erfolg?

Das „Summer Project“ erlangte nationale Bekanntheit, nachdem drei Beteiligte von Mitgliedern des Ku-Klux-Klans, einem rassistischen Geheimbund, getötet wurden. Aber innerhalb eines Jahres wurde der „Voting Rights Act“ in Kraft gesetzt. Das Gesetz sollte rechtliche Hindernisse abbauen, die Afroamerikaner*innen das Wählen erschwerten. Und so habe ich gelernt, dass man wirklich die Welt verändern kann, wenn man sich zusammenschließt.

Es folgte bald die nächste Sache, für die Sie sich mit anderen zusammenschlossen. 

Nach meiner Zeit in Mississippi bin ich zum Studieren nach Chicago zurückgekehrt. Dort hat mich irgendwann ein guter Freund gefragt, ob ich jemanden kenne, der Schwangerschaftsabbrüche durchführt. Seine Schwester war schwanger, wollte es nicht sein und war deshalb suizidal. Damals sprachen die meisten Menschen höchstens mit dem Partner oder der Partnerin über Sex und andere intime Angelegenheiten. Ich selbst hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch nie mit irgendjemandem über Schwangerschaftsabbrüche gesprochen. Trotzdem habe ich ihm gesagt, dass ich schauen würde, was ich tun kann. 

„Das Jane-Kollektiv ließ sich alles beibringen und hat so zwischen 10.000 und 11.000 Abbrüche durchgeführt“

Wie ging es dann weiter? 

Ich wandte mich an eine spezielle Gruppierung der Bürgerrechtsbewegung und konnte dadurch einen Chirurgen, Doktor Theodore Howard, ausfindig machen. Er war ein führender Kopf der Bürgerrechtsbewegung in Mississippi gewesen, aber nach Chicago gezogen, nachdem sein Name auf einer Todesliste des Ku-Klux-Klans aufgetaucht war. Er erklärte sich bereit, den Schwangerschaftsabbruch an der Schwester meines Freundes durchzuführen.

Es blieb dann allerdings nicht bei diesem einen Schwangerschaftsabbruch.

Nein. Nachdem Doktor Howard den ersten Abbruch durchgeführt hatte, baten mich immer mehr verzweifelte Frauen um Hilfe. Mir wurde klar, dass ich ein System aufbauen musste. Und weil das System nicht legal sein konnte, bekam es den Decknamen „Jane“. Doch irgendwann war ich nicht mehr in der Lage, die zahlreichen Anfragen zu bewältigen. Zudem wurde ich 1967 selbst schwanger, musste mich also um ein Kind kümmern. Deshalb habe ich zwölf Frauen rekrutiert, und so entstand schließlich das Jane-Kollektiv, das Schwangerschaftsabbrüche im Untergrund organisierte. 

Hat Doktor Howard weiterhin die Abbrüche durchgeführt?

Ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon länger keinen Kontakt mehr zu Doktor Howard. Irgendwann erfuhr ich, dass er wegen der illegal durchgeführten Abtreibungen verhaftet worden war. Ein Mann namens Mike übernahm dann seinen Job und führte die Abbrüche durch. Später haben wir herausgefunden, dass der gar kein Arzt war. Damit wurde uns klar, dass die Abbrüche auch von Laien durchgeführt werden können. Das Jane-Kollektiv ließ sich alles beibringen und hat so zwischen 10.000 und 11.000 Abbrüche durchgeführt, bis sie 1973 mit dem Grundsatzurteil Roe vs. Wade legal wurden. 

Bei so vielen Abbrüchen muss doch auch die Polizei etwas mitbekommen haben. 

Die Polizei wusste ziemlich sicher Bescheid, wollte sich aber nicht einmischen. Wir haben schließlich auch Abbrüche bei Verwandten von Polizisten durchgeführt. Aber 1971 dann hat die Schwägerin einer Person, bei der ein Abbruch durchgeführt wurde, das Jane-Kollektiv an die Polizei verraten. Sieben Frauen des Kollektivs wurden daraufhin 1972 verhaftet. Nach dem Urteil Roe vs. Wade wurden die Klagen allerdings fallen gelassen. 

„Ich hatte Angst um mich, ich hatte Angst um die anderen. Aber ich war bereit, mein Leben zu riskieren“

Sowohl Ihre Zeit bei der Bürgerrechtsbewegung als auch beim Jane-Kollektiv war alles andere als ungefährlich. Hatten Sie keine Angst? 

Ich hatte die ganze Zeit Angst. In Mississippi hatte ich vor allem Angst, andere Leute durch mein Handeln in Gefahr zu bringen. Tatsächlich wurden vier Mitglieder der Familie Hawkins, bei der ich während des „Freedom Summer Project“ wohnte, getötet. Ihr Haus wurde zweimal durch Brandbomben schwer beschädigt. Bei der zweiten Brandbombe wurden ein Sohn und zwei Enkelkinder getötet. Mrs. Hawkins wurde einige Zeit später von einem Polizisten getötet. Der Terror, den diese Familie erleben musste, ist unvorstellbar. Ich hatte Angst um mich, ich hatte Angst um die anderen. Aber ich war bereit, mein Leben zu riskieren. 

Mittlerweile wurde das landesweite Recht auf Abtreibungen, das in den USA über fast 50 Jahre lang galt, wieder gekippt. Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie davon erfuhren?

An diesem Abend habe ich mir das Theaterstück „To Kill A Mockingbird“ angeschaut. Es ist ein Stück über einen Anwalt, der einen unschuldigen afroamerikanischen Mann verteidigt, der der Vergewaltigung einer weißen Frau beschuldigt wird. In der Mitte des Stücks, als klar war, dass dieser Mann für schuldig befunden würde, wurde ich von einer tiefen Traurigkeit überwältigt und fing im Theater an zu weinen. Es lag nicht nur an der Tragödie des Stücks, sondern an der Entscheidung des Supreme Court und der Tatsache, dass wir in Zeiten leben, in denen unsere Freiheiten massiven Bedrohungen ausgesetzt sind. Das alles hat mich auf einmal mit ganzer Wucht getroffen. Jetzt ist es erst recht an der Zeit, sich zusammenzutun und gemeinsam gegen diese Ungerechtigkeiten zu kämpfen. 

Wird es wieder Jane-Kollektive geben?

Es gibt bereits Untergrundkollektive, die Frauen dabei helfen, in Bundesstaaten zu reisen, in denen Abtreibungen legal sind. Der Kampf geht also weiter. 

Machen Ihnen die jungen Menschen in Ihrem Land Hoffnung?

Im Moment steht viel auf dem Spiel, nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern wirklich auf der ganzen Welt. Wir stehen am Scheideweg. Auf der einen Seite geht es um die Freiheit, darüber zu entscheiden, wann und mit wem wir ein Kind bekommen, oder auch die Möglichkeit, einen lebenswerten Planeten zu erhalten. Auf der anderen Seite gibt es Kräfte, die diese Freiheiten einschränken wollen. Zurzeit kämpfen überall auf der Welt junge Menschen für diese Freiheiten. Ich hoffe, dass ich eine Verbündete sein kann beim Versuch, diesen Wandel herbeizuführen.

Titelbild:  STEFANI REYNOLDS/AFP via Getty Images

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