„Ich konnte mein Geschlecht in meinen Papieren nie ändern, die Anträge werden seit Jahren blockiert. Das ist immer dann problematisch, wenn ich mich ausweisen muss. Bei Kontrollen haben mich Polizisten schon als Schwuchtel beschimpft. Meine gesamte Familie ist homophob. Wie soll ich in Ungarn sicher sein, wenn mich sogar die Polizei beschimpft?“
Lili, 20 (auf dem Titelbild links)
Stell dir vor, auf deinem Personalausweis, auf deiner Mitgliedskarte im Fitnessstudio und auf deinem Zeugnis ist das falsche Geschlecht eingetragen. Obwohl du eine Frau bist und dich als eine fühlst, steht auf allen offiziellen Dokumenten, dass du „männlich“ seist.
In Ungarn könnte es bald vielen so gehen: Ende März reichte die Regierung um Viktor Orbán einen Gesetzentwurf ein, der es verbieten soll, das biologische Geschlecht oder den Vornamen offiziell ändern zu lassen. Alle ungarischen Rechtsdokumente würden dann nur noch den Namen und das Geschlecht „bei Geburt“ ausweisen.
Über diesen Eingriff in die Geschlechtsidentität wurde international kaum berichtet. Dass Orbán das Land nach seinen Vorstellungen umbaut, beobachten Kritiker*innen schon lange, Orbán selbst nennt Ungarn eine „illiberale Demokratie“. Und die Gesetzentwürfe, die auch das Gesetz zur Festschreibung des biologischen Geschlechts enthalten, fallen in den landesweiten Notstand, den die Regierung im März wegen der Corona-Pandemie ausrief.
„Ich verstehe nicht, wieso die EU nichts gegen die ungarische Regierung macht, sie verletzt seit Jahren das EU-Recht. Ich arbeite für eine Trans-NGO und habe eine Petition gegen den Gesetzentwurf gestartet. Ich fürchte, dass mit den Plänen der Regierung auch die Gewalt gegen queere Menschen zunimmt.“
Krisztina, 43
Laut Verfassung darf die Regierung für die Dauer der Gefahrenlage per Dekret regieren, also ohne das Parlament einzubinden. Eigentlich müsste der Notstand alle 15 Tage vom ungarischen Parlament bestätigt werden, doch durch ein neues Ermächtigungsgesetz regieren Orbán und sein Kabinett nun „bis zum Ende der Gefahrenlage“, also ohne genaue zeitliche Eingrenzung. (Zwar kann das Parlament die Ermächtigung theoretisch jederzeit widerrufen, es unterstützt die Regierung jedoch mit einer Zweidrittelmehrheit.) Volksabstimmungen und Wahlen sind damit ebenfalls auf unbestimmte Zeit ausgesetzt, und die geplanten hohen Haftstrafen für die Verbreitung von Falschmeldungen und Verstöße gegen die Quarantäneauflagen blockieren Demonstrationen.
Die ungarische Opposition, Bürgerrechtler*innen und das EU-Parlament kritisieren, dass Orbán die Corona-Krise ausnutze. Tatsächlich seien nicht alle Erlässe seit Orbáns Ermächtigung zur Eindämmung der Pandemie gedacht, sagte Jenö Kaltenbach, früherer Ombudsmann des Parlaments und Orbán-Kritiker, in einem Interview. So könnte die Regierung unter anderem die Kommunen unter Druck setzen, in denen die Oppositionsparteien regieren, und Bauprojekte in der Hauptstadt Budapest durchsetzen – gegen den Willen der Bevölkerung und des grünen Stadtbürgermeisters Gergely Karácsony.
„Bevor ich von Transidentitäten wusste, ging es mir lange schlecht. Ich habe Drogen genommen, hatte Suizidgedanken. Als ich vom Gesetzentwurf gehört habe, war ich schockiert. Ich habe Angst, dass ich meine Hormone nicht mehr verschrieben bekomme. Deshalb denke ich mittlerweile darüber nach auszuwandern. Noch habe ich aber die Hoffnung, dass ich in Ungarn bleiben kann.”
Máté, 41, heißt eigentlich anders, möchte aber anonym bleiben
Viktor Orbáns Partei Fidesz regiert im zehnten Jahr, seit Beginn 2013 wurden Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz in der Verfassung – 2013 sogar per Verfassungsänderung – massiv eingeschränkt. Der aktuelle Gesetzesentwurf ist auch nicht der erste Versuch, queeres Leben in Ungarn unsichtbar zu machen.
Orbán ist für seine trans- und homofeindliche Politik bekannt, die Fidesz macht LGBTQs für den angeblichen Zerfall der Gesellschaft verantwortlich. Seit 2013 erkennt die Verfassung kinderlose, unverheiratete oder gleichgeschlechtliche Paare rechtlich nicht mehr als Familien an. 2015 verhinderte Ungarn (gemeinsam mit Polen) eine EU-Vereinbarung, die bürokratische Hürden für im Ausland lebende verheiratete und verpartnerte, also auch homosexuelle Paare abbauen sollte. Zuletzt ließ die Regierung 2018 Gender Studies von der Liste zugelassener Studiengänge in Ungarn streichen. Offiziell wegen der angeblich mangelnden Nachfrage nach Absolventen der Kurse, aber auch, weil sie das Fundament der christlichen Familie untergraben würden und man keine Forschung zu Geschlechtern brauche, die biologisch festgelegt seien.
Als EU-Mitglied wird es Ungarn kaum möglich sein, den Notstand auf Jahre beizubehalten. EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen warnte die EU-Staaten erst kürzlich vor unverhältnismäßigen Krisenmaßnahmen. Ist das neue Gesetz, das Transpersonen die Änderung ihres Geschlechts verwehrt, aber erst mal verabschiedet, wäre die queere Community Ungarns noch unsichtbarer als bisher.
Titelbild privat / Getty Images, Portrait Krisztina: Mina Tolu