Worum geht’s?
Vor zehn Jahren hat die namenlose Ich-Erzählerin von „Die Steppe“ ihren Vater zuletzt gesehen. Damals verließ der Fernfahrer Frau und Kind, jetzt fährt sie mit ihm durch die „ewige“ Steppe Russlands nach Moskau. Die Erzählerin will in die russische Hauptstadt, um dort am Literaturinstitut zu studieren. Auch ihre Partnerin Lisa ist mit dabei. Die Fahrt ist lang, staubig, schweigsam – und lässt die junge Frau ihre Erinnerungen an den gewalttätigen Vater neu ordnen.
Worum geht’s eigentlich?
Die russische Autorin Oxana Wassjakina, Jahrgang 1989, spricht eine Vielzahl von Themen an: „Die Steppe“ verhandelt eine schwierige Vater-Tochter-Beziehung, die geprägt ist von der rohen Gewalt, die der Vater der Mutter antut. Außerdem beleuchtet der Roman das Leben eines – so sagt man es immer – „einfachen“ Mannes, dessen Leben bestimmt ist von viel Arbeit und noch mehr Alkohol und Drogen, bis es dadurch zerstört wird. Dieses ganz andere Leben des Vaters löst auch Scham in ihr aus, die sie reflektiert.
„Die Steppe“ ist keine umfängliche Analyse der russischen Gegenwartsgesellschaft, dafür bildet der Roman einen zu kleinen Ausschnitt ab. Dennoch verrät die Lebenswelt, die hier beschrieben wird, viel: Es herrscht bei den Eltern der Hauptfigur und deren Umfeld ein großes Misstrauen gegenüber allem Staatlichen, seien es Polizei oder Gesundheitssystem. Die Perspektivlosigkeit ist enorm, die Konflikte innerhalb der Familie auch.
Wie wird es erzählt?
„Die Steppe“ ist kein handlungsgetriebener Roman. Die lange Lkw-Fahrt durch die Steppe dient der Autorin eher als grobes Gerüst. Von dort aus zweigt sie immer wieder ab: Sie erzählt, wie sie mit dem Vater aufwuchs und er eine andere Frau kennenlernte oder später von dessen Tod. Das verknüpft sie stellenweise mit theoretisch-philosophischen Überlegungen, etwa über die Mythen, die russischen „Ganoven-Songs“ zugrunde liegen oder die Bedeutung der Steppe. Oxana Wassjakina nutzt dabei eine metaphorische Sprache voller Vergleiche, die sich mit messerscharfen Sätzen abwechseln, die die Traurigkeit der Geschichte auf den Punkt bringen.
Besonders interessant ist die Ansprache: Nicht oft, aber regelmäßig spricht die Ich-Erzählerin die Lesenden in der Du-Form an, häufig als Feststellung: „Wie du weißt, ist eine Reise keine einfache Zeit.“ Wer genau dieses Du ist, bleibt unklar – womöglich will die Autorin ihre Landsleute ansprechen, mit denen sie Erfahrungen und Wissen teilt.
Das Genre
Nach „Die Wunde“ hat Oxana Wassjakina mit „Die Steppe“ einen zweiten autofiktionalen Roman geschrieben, der direkt an ihr Debüt anschließt und Teil einer Trilogie ist. „Die Wunde“ ist auch auf Deutsch erschienen und wurde weltweit hoch gelobt. Darin schreibt Wassjakina über den Verlust ihrer Mutter. Autofiktion, also die Vermischung persönlicher Erfahrungen mit erfundenen Teilen, ist seit einigen Jahren ein Trend im Literaturbetrieb. Für ihr autofiktionales Werk wurde die französische Autorin Annie Ernaux sogar mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.
Das russische oppositionelle Exilmedium „Meduza“ stellte die These auf, dass autofiktionale Geschichten in der russischen Literatur beliebter wurden, seit das Land die Ukraine angriff. Denn jede Aussage zum Krieg – selbst ihn so zu nennen – kann Autor:innen und Medienschaffende ins Gefängnis bringen. Da konzentriere man sich lieber auf persönliche Erlebnisse.
Die Steppe
Der Vater kann ohne die Steppe nicht leben, für ihn ist sie essenziell. Er verbindet mit der scheinbar endlosen Weite Freiheit und Unabhängigkeit. Später, als er wegen einer Krankheit nicht mehr lange fahren kann, fährt er Touren innerhalb von Astrachan, einer Großstadt im Südwesten des Landes in der Nähe des Kaspischen Meeres. Doch schon nach zwei Wochen hält er es nicht mehr aus. Die Steppe war sein Zuhause.
Gut zu wissen
Drogenmissbrauch, eine lesbische Hauptfigur, Gewalt: „Die Steppe“ darf in Russland wohl wegen dieser Themen nicht an Menschen unter 18 verkauft werden. Insbesondere queere Inhalte haben es seit mehreren Gesetzesverschärfungen schwer in Russland: Filme und Bücher, in denen queere Beziehungen positiv dargestellt werden, dürfen nicht vertrieben werden. In „Die Steppe“ wird Julia, die Partnerin der Erzählerin, jedoch nur an wenigen Stellen erwähnt. Oxana Wassjakina hat sich womöglich wegen der strengen Gesetze beschränkt und die Beziehung kaum beschrieben.
Lohnt sich das?
„Die Steppe“ ist sicher kein leichtes Lesevergnügen. Die Geschichte des Vaters ist stellenweise zutiefst traurig, die rohe Gewalt in der Partnerschaft verstörend. Die Gefühle der Erzählerin sind komplex und ambivalent – genau das macht sie so überzeugend. Manche Abschweifungen fühlen sich etwas zäh an. Aber: Der Roman erlaubt einen Einblick in einen Teil der russischen Gesellschaft, der so manche großen politischen Zusammenhänge im Kleinen besser verstehen lässt.
Titelbild: Eugenio Grosso/Redux/laif