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„Wir dachten, das wird der langweiligste Film der Welt“

Muhammad Saud und Nadeem Shehzad retten Vögel, die vom smogverhangenen Himmel Neu-Delhis fallen. Eine Doku über die Brüder könnte einen Oscar gewinnen

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All that breathes

Mohammad Saud und Nadeem Shehzad betreiben im Keller ihres Hauses in Neu-Delhi ein provisorisches Tierkrankenhaus. Die Brüder kümmern sich um Raubvögel, die vom smogverhangenen Himmel fallen: Die Stadt ist eine der bevölkerungsreichsten der Welt, hat viel Verkehr, viele Menschen verbrennen Müll und Erntereste auf den Straßen. Die Luftverschmutzung ist extrem, Saud und Nadeem geht die Arbeit nicht aus. Der Regisseur Shaunak Sen hat sie drei Jahre lang begleitet. Seine Dokumentation „All That Breathes“ (zum Trailer) ist für einen Oscar als „Beste Dokumentation“ nominiert. (Anmerkung, 13. März: Den „Dokumentarfilm“-Oscar gewann diese Doku über den russischen Oppositionellen Alexej Nawalny.)

fluter.de: Könnt ihr euch an den ersten verletzten Vogel erinnern, den ihr gefunden habt?

Nadeem: Das war Mitte der 90er-Jahre, wir sind noch zur Schule gegangen. Wir fanden einen verwundeten Schwarzmilan (Anm. d. Red.: Raubvögel, die überall über Delhi kreisen) am Straßenrand und brachten ihn zu einem Vogelkrankenhaus. Dort wollte man ihn nicht behandeln: Die Klink wird von Anhängern der Jain-Religion betrieben, die nicht mit Fleisch in Kontakt kommen wollen. Sie hätten den Schwarzmilan also gar nicht füttern können.

Was ist mit ihm passiert?

Nadeem: Wir versuchten es in anderen Kliniken. Aber alle lehnten den Vogel ab. Da haben wir ihn an den Ort zurückgebracht, wo wir ihn gefunden hatten. Uns blieb nichts anderes übrig. Über die Jahre fanden wir immer wieder solche Schwarzmilane. Erst 2003 haben wir die ersten mit nach Hause genommen.

Saud: Wir setzten sie in einen kleinen Käfig auf unserem Dach. Als es noch mehr wurden, fingen wir an, sie in unserem Keller zu behandeln. Irgendwann brachten uns auch Nachbarn und Fremde verwundete Vögel. Und die Dinge nahmen ihren Lauf.

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Verleihen Flügel: Mohammad (links) und Nadeem vor ihrem Haus in Delhi. Mithilfe von Spenden konnten sie die Organisation „Wildlife Rescue“ gründen, die heute fünf Mitarbeiter beschäftigt

Mit welchen Verletzungen kommen die Vögel?

Saud: Viele haben verletzte, manchmal sogar abgetrennte Flügel. Die Menschen in Indien vertreiben sich gern die Zeit mit dem Fliegenlassen von Papierdrachen. Die Fäden, an denen die Drachen befestigt sind, werden mit Glaspulver beschichtet, um das Schneiden eines gegnerischen Drachens zu erleichtern. Wenn ein Vogel im Flug mit so einem Faden kollidiert, durchtrennt der ihm Muskeln, Sehnen, Haut und manchmal sogar die Knochen. Wir operieren diese Vögel, sodass sie wieder fliegen können. Dann gibt es, vor allem in der Brutzeit zwischen April und Juni, viele dehydrierte Jungvögel.

Die Sommer in Delhi werden aufgrund des Klimawandels immer heißer …

Saud: … und wir behandeln mehr und mehr Vögel. Im Winter, wenn die Luftverschmutzung in Delhi sehr hoch ist, haben die Vögel Atemprobleme.

Die Vögel leiden genauso unter dem Smog wie Menschen?

Saud: Alle Lebewesen in unserer Stadt leiden unter der schlechten Luft. Wir Menschen können uns im Haus noch ein wenig schützen. Die Vögel können es nicht.

„Bis heute haben wir rund 27.000 Vögel behandelt. Es kommen immer noch sieben bis acht neue am Tag, in der Brutzeit bis zu 60“

Ihr seid keine Veterinärmediziner. Habt ihr euch selbst beigebracht, die Vögel medizinisch zu versorgen?

Saud: Als wir anfingen, hatten wir keine Ahnung, was wir taten. Wir schauten Videos. Ab und an kam ein Tierarzt und half uns. Es gab Fälle, in denen Vögel nach unserer Operation nicht mehr fliegen konnten. Das war schlimm, hat uns aber geholfen, unsere Behandlung zu verbessern. Heute sind wir sehr erfolgreich. Trotzdem überleben nur etwa 60 Prozent aller Vögel, die zu uns kommen.

Wie viele Vögel habt ihr behandelt?

Nadeem: Die ersten sieben Jahre waren es rund 500, also nicht viele. 2010 gründeten wir unsere Organisation „Wildlife Rescue“. Mit den Spenden konnten wir ein Team mit fünf Mitarbeitern aufstellen und bis heute rund 27.000 Vögel behandeln. Es kommen ständig neue, sieben bis acht am Tag, in der Brutzeit bis zu 60.

Wer bringt sie euch?

Nadeem: Meist andere Tier- und Vogelkrankenhäuser. Viele Jains und Hindus lehnen Raubvögel ab, weil sie Fleisch fressen. In den Kliniken hat kaum einer eine Ahnung, wie man die Vögel versorgt. Das muss man aber: Bei Schnitt- und Wundfällen haben wir sie fast einen Monat hier, bevor wir die Vögel freilassen können.

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Wie bringt ihr die Vögel unter?

Saud: In unserem Gehege auf dem Dach unseres Zuhauses. Das ist immer geöffnet, die Vögel können es verlassen und zurückkommen, wann sie wollen. Viele Jungvögel lernen bei uns erst das Fliegen. Sie brauchen zwei bis vier Monate, um sich in freier Wildbahn anzupassen, und kommen zwischendurch immer wieder zurück. Manchmal kommen Vögel, die wir bereits behandelt haben. Wir erkennen sie an ihren Operationsnarben.

Nadeem: Manche kamen auch zurück und starben.

Ihr rettet einen Vogel, der dann aus denselben Gründen, die ihn beim ersten Mal krank gemacht haben, wieder zurückkommt. Eine Sisyphosarbeit.

Nadeem: Wir können einen verletzten Vogel nur behandeln und ihn freilassen. Mehr können wir nicht tun.

Welche Verbindung habt ihr zu den Vögeln?

Nadeem: Vögel sind eine Schöpfung Gottes. Genau wie wir. Wenn du ihnen gnädig bist, ist Gott dir gnädig. Wir glauben, dass die Vögel auch Gefühle haben. Sie sind unterschätzt, Vögel sind sehr intelligent. Das versteht man, wenn man mit ihnen zusammenlebt.

Der Regisseur Shaunak Sen hat dieses Zusammenleben über drei Jahre begleitet. Wie war es, mit ihm zu arbeiten und von Kameras begleitet zu werden?

Nadeem: Da waren plötzlich immer mindestens drei Kameraleute, drei Tontechniker, ein Regieassistent und Shaunak um uns herum. Am Anfang waren wir sehr kamerascheu. Aber Shaunak sagte, sein Film beginne erst, wenn es uns nicht mehr peinlich sei vor der Kamera zu gähnen. Weil wir sie nicht mehr bemerken. Als er fertig war, waren wir alle sehr emotional. Er war nicht nur in der Vogelstation, sondern auch in unserem Zuhause immer dabei. Er ist ein Freund geworden.

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Muhammad im Vogelgehege auf dem Dach

Habt ihr „All That Breathes“ schon gesehen?

Nadeem: Ja. Als gedreht wurde, dachten wir: Das wird der langweiligste Film der Welt. Aber er ist sehr anders als andere Filme.

Warum?

Nadeem: Es wird nicht viel erklärt. Man muss selbst nachdenken, sich fragen, was wir denken. Es ist, als würde der Zuschauer mit uns im Raum sitzen.

Wie würde sich euer Leben verändern, wenn „All That Breathes“ einen Oscar gewinnt?

Nadeem: Es würde sich nichts ändern. Na gut, vielleicht wüssten mehr Leute von der Arbeit, die wir hier machen.

Saud: Wir werden nicht von der Regierung unterstützt, aber durch Spenden. Seit der Veröffentlichung haben viele Menschen gespendet. Unser Traum ist ein großes Vogelkrankenhaus mit einer Vogelforschungsstation – auf einem eigenen Grundstück außerhalb unseres Hauses.

„All That Breathes“ läuft auf HBO Max.

Fotos: HBO Max / Kiterabbit Films

Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.