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Der Himmel über Kabul

Unter den Taliban war in Afghanistan neben Kino und Dating auch das traditionelle Drachensteigen verboten. Nun könnten die Terroristen in die Regierung zurückkehren – werden die Leinen wieder gekappt?

Kabuls Himmel ist voll dieser Tage. Das liegt neben Kampfhelikoptern und den Überwachungsballons der US-amerikanischen Besatzung auch an einheimischen Flugobjekten: Lenkdrachen.

Spätestens seit dem Roman „Drachenläufer“ von Khaled Hosseini ist auch in der westlichen Welt bekannt, dass das Drachenspiel eine große Bedeutung für die afghanische Kultur hat. Gerade stimmt es die Menschen im Land auf den Frühling ein. Der Höhepunkt des Drachenspiels (auf Persisch: Godi paran baazi, übersetzt: Spiel mit der fliegenden Puppe) wird an Nawroz erreicht, dem Neujahrsfest, das Afghanen, Iraner, Kurden und zahlreiche andere Völker in der Region feiern. Traditionell wird das Fest mit dem Frühlingsbeginn gefeiert.

„Wir haben uns wochenlang aufs Drachensteigen vorbereitet und versucht, den perfekten Kampfdrachen zu kreieren“

Für viele Drachenspieler hört dann der Zeitvertreib auf, es geht um Können und Wettbewerb. „In meiner Kindheit fanden zu Nawroz Wettbewerbe statt, an denen ich auch teilnahm“, erinnert sich Nasir Mohammadi, 60. „Viele Menschen können sich gar nicht vorstellen, wie viel Elan und Euphorie im Drachenspiel steckte. Wir haben uns wochenlang darauf vorbereitet und versucht, den perfekten Kampfdrachen zu kreieren.“ Damals wie heute wurden die errungenen Drachen als Trophäen betrachtet. Es gibt Menschen, meint Mohammadi, die über die Kunst des Drachensteigens Doktorarbeiten schreiben könnten.

Für die meisten Afghanen bleibt das Drachensteigen aber ein Zeitvertreib. Nach dem Feierabend, bevor der Muezzin zum Abendgebet aufruft und es dunkel wird, schwirren Jung und Alt aus, um ihre Drachen aufzuspannen. Oder andere zu „schneiden“. Dabei versucht man, andere Drachen vom Himmel zu holen, indem man deren Schnur mit der eigenen kappt. Dafür werden spezielle Fäden gefertigt. Ein Bad in Klebstoff und zerkleinerten Glasscherben macht sie widerstandsfähig und extrem scharf. Solche Drachenfäden werden für viele Afghanen zur Wissenschaft. Wer mit schlechter Schnur startet, verliert seinen Drachen schnell. Egal wie gut er fliegen kann.

Die scharfen Schnüre können auch für den Besitzer selbst gefährlich werden. „Professionelle Drachenspieler nutzen ein Stückchen Leder, damit ihre Finger nicht zerschnitten werden“, erzählt Parvez, 40. Jeden Freitag, dem Feiertag der afghanischen Woche, lässt er gemeinsam mit seinen zwei Söhnen Drachen steigen. „Für die Jungs das Highlight der Woche“, sagt er. Parvez kennt das noch. Er selbst ist schon als Junge auf die Dächer und Hügel Kabuls gestiegen, um seine aufwendig gebastelten Drachen steigen zu lassen.

 

Dabei war selbst etwas so Harmloses wie Drachensteigen nicht immer selbstverständlich in Afghanistan. Als die Taliban Mitte der 90er-Jahre an die Regierung kamen, verboten sie mittels ihrer eigenen, sehr extremen Interpretation der Scharia neben Fußball, Kino, Dating und anderen Freizeitbeschäftigungen auch das Spiel mit den Drachen. Manche fürchten, dass sich diese Zeiten wiederholen.

Die USA überlassen Afghanistan jetzt sich selbst – und damit möglicherweise den Taliban

Vor gut einem Jahr unterzeichneten die Terroristen, die mittlerweile wieder etwa die Hälfte des Landes besetzen, einen Abzugsdeal mit den USA. Bis September werden ihre Truppen das Land nach fast 20 Jahren verlassen – genau wie knapp 10.000 Nato-Soldaten (siehe Infokasten). Gleichzeitig laufen Friedensgespräche zwischen den Taliban und Vertretern der afghanischen Regierung. Sie suchen Kompromisse, um die Macht im Land aufzuteilen. Eine neuerliche Regierungsbeteiligung der Terroristen wird immer wahrscheinlicher – und damit auch das Ende der Drachen über Kabul?

„Ich glaube nicht, dass sie das durchsetzen können. Afghanistan hat sich verändert. Die Menschen werden das nicht akzeptieren“, sagt Ajmal. Seit Jahren verkauft der 40-Jährige am Großen Basar von Kabul Drachen, Spulen und Schnüre. Er hat praktisch alles, was das Drachenspielerherz begehrt. „Das ist ein Saisonjob. Nach Neujahr wird der Verkauf zurückgehen, aber gerade kann ich mich nicht beklagen“, sagt Ajmal. Die Drachen sind billig. Halbwegs gute Exemplare aus hauchdünnem Seidenpapier und Bambusstäben bekommt man trotz aufwendiger Herstellung meist für wenige Euro. Gutes Geld verdient Ajmal eher mit guten Spulen, deren Schnüre meist mehrere Kilometer lang sind. Ajmal präsentiert ein Stück, das 1.500 Afghani, rund 17 Euro, kostet. „Ein Wettbewerbsstück“, sagt er, „nichts für Anfänger.“

Warum die Taliban einst das Drachenspiel verboten haben, ist für viele Menschen bis heute nicht nachvollziehbar. Manche erzählen, dass das Verbot schon damals nicht aufrechtzuerhalten war. „Als ich im Sommer 1999 nach Kabul kam, war der Himmel voller Drachen“, erzählt etwa Thomas Ruttig, Co-Direktor des Thinktanks Afghanistans Analysts Network. „Die Taliban waren einfach nicht mehr fähig, all ihre Verbote zu überwachen und durchzusetzen.“

Für Drachenverkäufer Ajmal ist klar, dass es darum gar nicht ging: Das Verbot sei vor allem eine Machtdemonstration gewesen. „Ein Drachen ist so viel mehr als ein Stück Papier an einem Faden. Er ist ein Symbol für Freiheit“, sagt er. „Die Taliban waren gegen diese Freiheit. Die Taliban stellten sich damit gegen den Willen der Afghanen – und scheiterten. Sie können die Freiheit nicht verbieten.“

Titelbild: Tomas Munita/NYT/Redux/laif

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